Außenansicht:Italien ist klüger

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Deutschland könnte vom streikerprobten Land viel lernen. Große Gewerkschaften disziplinieren kleine.

Von Maurizio Del Conte

Die Streikwelle, die den deutschen Transportsektor erfasst hat, erinnert an die Siebziger- und Achtzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts - an eine wenig glorreiche Phase der Gewerkschaftspolitik im öffentlichen Dienst Italiens. Unser Land erwarb sich damals international einen soliden Ruf als stets von Streiks gelähmtes Gemeinwesen. Das ging so weit, dass jeder, der das Bel Paese bereisen wollte, sich vorher im Streikkalender für Züge, Flugzeuge und Fähren informieren musste. Und manchmal reichte auch das nicht, um vor Überraschungen gefeit zu sein, denn Streiks wurden oft angesetzt ohne jede Vorankündigung von Zeitpunkt, Ausmaß oder betroffenen Bereichen.

Protagonisten dieser Gewerkschaftsstrategie der ständigen Agitation waren vor allem die kleinen Gewerkschaften, die nicht zu den großen nationalen Verbänden gehörten, aber die Möglichkeit hatten, die Gesellschaft zu erpressen. Das lag daran, dass sie konzentriert waren auf bestimmte Berufsgruppen an neuralgischen Stellen des öffentlichen Dienstes.

Am eklatantesten war das bei den Fluglotsen, die es im Oktober 1979 schafften, den gesamten Inlandsflugverkehr lahmzulegen. Von da an vermehrten sich sogenannte Basiskomitees in jedem Bereich des Transportwesens: von Lokführern über Flugzeugpiloten bis zum Landungspersonal der Linienschiffe. Das Phänomen war derart verbreitet und unvorhersehbar, dass Zeitungen und Fernsehen besonders malerische Namen prägten, um die Basiskomitees zu unterscheiden. So wurde etwa die autonome Gewerkschaft der Piloten "wilder Adler" getauft, weil sie Überraschungsstreiks mit sehr großen Folgen organisierte.

Als Ergebnis dieser Radikalisierung des Konflikts und des Zersplitterns der Gewerkschaftsfront in eine Galaxie improvisierter Kleinstgewerkschaften überwogen die Interessen weniger, zum Schaden der Gesamtheit. Nicht nur derer, die öffentliche Dienste in Anspruch nahmen, sondern auch der Mehrheit der Arbeitnehmer, denen die Kosten der Forderungen der organisierten Minderheiten aufgebürdet wurden.

Die klassischen Gewerkschaften fanden sich in diesem Szenario plötzlich an den Rand gedrängt. Eine große Massengewerkschaft, die ihre Legitimation daraus bezieht, dass sie alle Teilbranchen vertritt, kann nicht der Fürsprecher lediglich kleiner, privilegierter Gruppen werden, die durch ihre Stellung den öffentlichen Dienst lahmlegen können. Aber die italienischen Gewerkschaften verstanden es, auf diese schwierige Herausforderung intelligent und verantwortungsvoll zu reagieren, ohne der Versuchung zu erliegen, den Konflikt auszuweiten, um den Basiskomitees bei den umstrittensten Positionen nachzueifern. Im Gegenteil, sie prangerten die Schäden an, welche die radikale, egoistische Haltung dem Land zufügte.

Die Ausstände von Lokführern oder Piloten drehen die Uhrzeiger der Geschichte zurück

Diese verantwortungsbewusste Haltung der drei großen Gewerkschaftsverbände CGIL, CISL und UIL drückte sich am deutlichsten aus, als sie das Tabu von der Unantastbarkeit des Streikrechts brachen. Sie taten das, als sie das erste Gesetz zur Regulierung von Streiks in lebenswichtigen Bereichen des öffentlichen Dienstes unterstützten. 1990 war dies der entscheidende Schritt, um die Ära der Gewerkschaften lautstarker Minderheiten zu überwinden, die Sabotage betrieben am System der öffentlichen Dienste und dabei die Bürger als Geiseln nutzten. Deshalb lesen sich die Nachrichten dieser Tage vom Streik der Lokführer bei der Deutschen Bahn und der Lufthansa-Piloten - von Italien aus gesehen - so, als würden die Uhrzeiger der Gewerkschaftsgeschichte zurückgedreht. Einer Geschichte, von der man dachte, dass sie endgültig bei den Akten liege und nach der sich niemand zurücksehnte. Wenn man selbst erlebt hat, welche Schäden diese Ära der Streiks angerichtet hat, erscheint es kaum glaublich, dass sich heute, ein Vierteljahrhundert später, ein ähnliches Szenario darbietet - in einem Land, das immer als tugendhaftes Vorbild galt für eine geregelte Gewerkschaftpolitik, getragen vom Geist der Zusammenarbeit.

Das deutsche Wirtschaftswunder, das es geschafft hat, der verheerenden Krise nach dem Wall-Street-Zusammenbruch 2008 zu trotzen, haben viele Beobachter damit erklärt, dass es dank des Prinzips der Mitbestimmung von Arbeitnehmern in der Unternehmensführung einen starken gesellschaftlichen Zusammenhalt gibt. Dafür spricht auch, dass die europaweiten Arbeitsmarktreformen, die angestoßen wurden, um der verbreiteten Arbeitslosigkeit zu begegnen, sich weitgehend am deutschen Vorbild orientiert haben, das als exportwürdiges Beispiel gesehen wurde.

Aber wie ist es ausgerechnet jetzt möglich, da die Wirtschaft in ganz Europa Anzeichen für einen Wiederaufschwung zeigt, dass Deutschland sich mit einem derart heftigen sozialen Konflikt auseinandersetzen muss? Hat das deutsche Mitbestimmungsmodell vielleicht seine Fähigkeit erschöpft, die Wirtschaft des Landes und den Wohlstand der Arbeitnehmer ausgewogen wachsen zu lassen? Vorsicht, es sollte die alte italienische Lektion nicht vergessen werden: Die Streiks dieser Tage, die im vergangenen Herbst schon Vorläufer hatten, sollten alle Deutschen an den grundlegenden Wert eines Systems erinnern, das auf der gemeinsamen Verantwortung von Unternehmen und Gewerkschaften basiert. Ein Wert, der niemals für selbstverständlich angesehen werden darf und der entschieden verteidigt werden muss, an erster Stelle von den Sozialpartnern.

Wenn der Konflikt sich aufs Äußerste zuspitzt und die Gewerkschaft sich spalten, um in kleinen Einheiten Gruppeninteressen zu vertreten, muss dafür die Gesamtgemeinschaft die Zeche zahlen. Die mittlerweile lange Geschichte der Gewerkschaften in Europa zeigt, dass die konfliktreichsten und besonders verfahrenen Phasen zwar dafür gut waren, beträchtliche Lohnsteigerungen für einige wenige, eng begrenzte Sektoren der Arbeitswelt zu ermöglichen. Langfristig aber haben sie zu einem allgemeinen Verlust der Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen geführt, zum Anstieg von Inflation und Arbeitslosigkeit und am Ende zu einer Glaubwürdigkeitskrise der Gewerkschaften selbst.

Die Herausforderung, vor der die deutschen Gewerkschaften jetzt stehen, ähnelt in vielem der, vor der die italienischen Gewerkschaften in den Neunzigerjahren standen. Sie ist nur zu bewältigen, wenn die Gewerkschaften ihre historische Bedeutung als breit aufgestellte, verantwortungsbewusste Vertretung dadurch wiederbeleben, dass sie für langfristige Ziele arbeiten, die tatsächlich im Interesse aller Arbeitnehmer sind.

© SZ vom 13.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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