Außenansicht:Gefährliche Duldsamkeit

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Monika Frommel, 70, war bis 2011 Direktorin des Kriminologischen Instituts der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. (Foto: Frommel fotodesign)

Deutschland hat die richtigen Gesetze, um mit Gefährdern umzugehen. Man muss sie nur konsequent anwenden.

Von Monika Frommel

Über die vergangenen Monate haben wir gelernt, wie leichtfertig einige für Abschiebung zuständige Behörden sogenannte Gefährder freigelassen haben, mit der abenteuerlichen Begründung, Länder wie Tunesien kooperierten nicht, und das deutsche Recht verlange nun einmal die Einhaltung bestimmter Fristen. Dass Fristen verlängert werden können, wissen wir jetzt, sodass das vom Bundeskabinett beschlossene Maßnahmepaket eher Versäumnisse kaschiert, als effektive Instrumente schafft. Aber statt zumindest die halbe Wahrheit zu offenbaren und eine durchdachte Strategie für die Zukunft zu entwerfen, schob man den Schwarzen Peter vom Land (NRW) auf den Bund. Dieser reagiert nun mit den genannten Gesetzesänderungen. Sie werden sachlich nichts ändern, aber das geltende Recht noch unbestimmter machen.

In Köln immerhin gibt es Bewegung. Das Motto für Silvester 2016/2017 "Köln erobert sich den Domplatz zurück" wurde erfüllt. Aber hat das Land aus seinem Polizeiversagen tatsächlich nachhaltig und nicht nur punktuell gelernt? Was damals passierte, ist nicht auf unzureichende Gesetze, sondern auf die Nichtanwendung des Aufenthalts-Gesetzes zurückzuführen. Das Vertrauen in die NRW-Innenpolitik ist seither erschüttert. Aber noch immer verdunkelt die Politik das Geschehene und flüchtet sich in eine permanente Änderungsgesetzgebung, die sie sich leisten kann, weil Große Koalitionen bequeme Mehrheiten haben.

Der Streit über das Kürzel Nafri (wobei das I für Intensivtäter stehen muss) ist eine typische Scheindebatte. Kann sein, dass die Kölner Polizei nicht primär kontrolliert hat, ob jemand mehrere Identitäten hatte, sondern - im schlechten Stil - auf die Hautfarbe achtete. Aber es gibt diese Intensivtäter nun einmal. Sie sind Ergebnis einer über Jahre praktizierten unverantwortlichen Duldungspolitik einzelner Länder, welche die Subkulturen erst geschaffen hat, in denen dann tatgeneigte Migranten aus dem Maghreb so fatal sozialisiert wurden und in denen sie noch immer leben. Fast ein Jahr nach der verhängnisvollen Silvesternacht, in der die Willkommenskultur in Deutschland weitgehend beendet wurde, haben Gerhard Voogt und Christian Wiermer recherchiert, was wirklich passiert ist. Sie haben Zehntausende Dokumente ausgewertet und mit Beteiligten gesprochen - mit Opfern, Tätern, Rettern, Verantwortlichen. Bestätigt werden danach Vorwürfe, wonach Opfer abgewiesen worden seien, weil nicht genügend Polizei da war und es keinen Plan gab zur Verstärkung. Statt die Ursachen dieser Fehleinschätzung zu analysieren, wurde im Juli 2016 das Sexualstrafrecht geändert, ein reiner Aktionismus. Vor dem Innenausschuss des Landes nahm der äußerst besonnene Kriminologe Rudolf Egg Zuflucht zu einer Kontrolltheorie der 1990er-Jahre, die vom Bild der broken windows lebt. Sie besagt: Wer eingeschlagene Fensterscheiben nicht repariert, der provoziert Einbruch, Vandalismus und auch Gewaltkriminalität geradezu. Politisch schuf der Kontrollverlust eine extrem konservative Stimmung, die dem Hardliner Rudy Giuliani in New York 1994 zur Macht verhalf.

Eigentlich konnte man in Deutschland immer stolz sein, dass hier diese extrem schlicht gestrickte Kontrolltheorie nicht passte. Innenpolitik lebte von klug antizipierendem Verhalten einer gut ausgebildeten Polizei und kritischer Beobachtung. Aber diese Haltung ist zunehmend fragil geworden. Seit einiger Zeit wird wieder grob vereinfacht. Geklagt wird über eine angebliche rape culture, gefordert wird die (kriminologisch sinnlose) Verschärfung von Mindeststrafen. Über die Mentalität der islamischen Migranten wird räsoniert, analysiert wird nicht die verfehlte Innenpolitik in NRW. Rudolf Egg hat mit den broken windows lakonisch einen ersten Hinweis gegeben, was zu ändern wäre. Schaut man die Lageberichte an, dann war auf der Kölner Domplatte spätestens um 20.30 Uhr die Situation außer Kontrolle. Nach 22 Uhr herrschte Chaos. Der Mob probte den Aufstand. Der Bahnhof war zu einem gefährlichen Ort geworden, aber die Züge fuhren dennoch. Polizisten hatten Angst. Informationen wurden nach oben weitergegeben, aber nicht mehr ausgetauscht. Vor Ort mussten die wenigen Polizisten hilflos improvisieren. Bereits am frühen Abend wurde eine Polizistin durch einen Böller verletzt. Ihre Hilflosigkeit wurde ausgenutzt. Auch sie wurde begrapscht und beraubt. Sie meldete diese Vorfälle sofort. Aber statt Ordnung herzustellen, geschah nichts. Die sehr genaue Meldung der Polizistin verschwand in den Nischen der handlungsunfähigen Hierarchie. Angeblich unklare Kompetenzen wurden vorgeschoben und ein gutmütiger Polizeipräsident entlassen.

An Silvester 2016/2017 galt - wie damals in New York - ein anderes Modell. Von außen betrachtet war die Reaktion - bezogen auf diese Nacht - richtig. Aber wieso überschlagen sich seither fast alle Politiker mit kurzatmigen Vorschlägen? Weder Abschiebung noch Fußfesseln sind Anti-Terror-Instrumente. Abschiebungshaft darf nur verhindern, dass sich ein Pflichtiger der Ausreise entzieht. Niemand hat etwas dagegen, dass eine moderate Abschiebehaft in die Zuständigkeit des Bundes fällt und das nötige Personal aufgestockt wird. Aber Prävention und Repression gegen Terrorverdächtige muss ganz anders aussehen und darf nicht mit der Flüchtlingspolitik vermengt werden.

Geschaffen wurden geeignete Instrumente im Jahr 2001 noch unter Innenminister Otto Schily. Es ist dies der Paragraf 129 b Strafgesetzbuch gegen grenzüberschreitende terroristische Vereinigungen. Die Geheimdienste bekamen mehr Befugnisse, der Datenaustausch zu Polizei und Ausländerbehörden wurde erleichtert. Wenn diese Befugnisse nun - insbesondere in einzelnen Ländern - nicht genutzt werden, wenn die Kommunikation nicht funktioniert und keine Ermittlungsverfahren eingeleitet werden, dann liegt das nicht an den Gesetzen, auch nicht am Föderalismus und schon gar nicht an "der" Justiz, sondern an der Nichtanwendung geltenden Rechts. Wieso wurde und wird noch immer der auf diese Gefahren zugeschnittene Paragraf 129 b nicht angewandt? Diese Anti-Terror Strafnorm verklammert schließlich die vielen - eher leichten - Taten sogenannter Gefährder zu einem gut nachweisbaren Vorwurf, der dann - wegen seiner Bedeutung - auch konsequent verfolgt werden muss. Schon wer mit Terroristen kooperiert, zeigt seine Gefährlichkeit und macht sich strafbar. Diese Fragen sollte nicht nur Innenminister Ralf Jäger (NRW) beantworten. Auch der Bund und die besonders nachlässigen Länder sollten den Schwarzen Peter aus dem Spiel nehmen.

© SZ vom 06.02.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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