Außenansicht:Eine Stimme ist genug

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Hans Peter Bull, 80, war Professor für Öffentliches Recht an der Universität Hamburg, erster Bundesbeauftragter für den Datenschutz und von 1988 bis 1995 Innenminister von Schleswig-Holstein. (Foto: Axel Heimken/dpa)

Der neue Bundestag wird so groß sein, dass seine Arbeitsfähigkeit leidet. Es ist Zeit für eine gründliche Reform des Wahlrechts.

Von Hans Peter Bull

Seit dem Wahlsonntag hat Deutschland - nach China - das zweitgrößte Parlament der Welt: 709 Abgeordnete werden in den neuen Bundestag einziehen - mehr als je zuvor und mehr als nötig wäre, um das Volk angemessen zu repräsentieren. Nicht nur dass dieser besonders große Bundestag besonders hohe Kosten verursachen wird - noch ärgerlicher ist, dass er mit der Vergrößerung nicht arbeitsfähiger wird, im Gegenteil: Die Abläufe dürften schwerfälliger werden.

Die Entwicklung war absehbar. Allen Experten ist schon lange klar, dass das Wahlsystem, wie es der Gesetzgeber (auch nach Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts) gestaltete, zu vielen Überhangmandaten und in der Folge zu noch mehr Ausgleichsmandaten führen würde. Die Wähler haben zwei Stimmen: die "Erststimme" für den Wahlkreis und die (in Wahrheit entscheidende) "Zweitstimme" für die Landeslisten der Parteien. Die Wahlkreisstimme soll eine Auswahl unter Personen ermöglichen, die Listenstimme die Stärke der Parteien bestimmen. Man spricht von der "personalisierten Verhältniswahl". Für die Sitzverteilung entscheidend ist das Verhältnis der Listenstimmen zueinander; die in den Wahlkreisen gewählten Bewerber werden auf die Parteilisten angerechnet.

Wenn nun - wie jetzt wieder geschehen - mehr Kandidaten einer Partei in den Wahlkreisen gewählt werden als dieser Partei nach dem Verhältnis der Zweitstimmen zustehen, bleiben die Wahlkreisbewerber zwar gewählt, aber den anderen Parteien stehen Ausgleichsmandate zu, damit das Stimmenverhältnis sich in der Sitzverteilung abbildet. Auf diese Weise sind soeben bundesweit 46 Überhangmandate und 65 Ausgleichsmandate entstanden, insgesamt 111 mehr als die 598 Mandate, die das Bundeswahlgesetz als Normalgröße des Bundestages vorgibt (und wesentlich mehr, als das Bundesverfassungsgericht zulassen wollte, nämlich 15). Dazu kam es, weil die bisher großen Parteien viele Stimmen verloren haben, in den Wahlkreisen aber noch die relative Mehrheit erringen konnten, während mehrere mittelgroße Parteien bei den Listenstimmen gut abgeschnitten haben. Der Union haben ihre bescheidenen Wahlkreiserfolge zwar 43 Überhangmandate eingebracht, aber den anderen Parteien die genannten Ausgleichsmandate (FDP 15, AfD elf, Linke und Grüne je zehn), und wegen der regionalen Unterschiede erhielt die SPD drei Überhang-, aber auch 19 Ausgleichsmandate. Solche Ergebnisse wird es auch künftig geben, wenn der Gesetzgeber nicht vorher eingreift.

Was nützt der genaue Proporz, wenn sich daraus kein arbeitsfähiges Parlament ergibt?

Ob der angestrebte Personalisierungs-Effekt des geltenden Systems wirklich erzielt wird, ob also wirklich mehr profilierte, bei den Wählern bekannte und beliebte Kandidaten in die Parlamente einrücken, ist sehr fraglich. Dass dadurch mehr prominente Persönlichkeiten als Parteisoldaten Volksvertreter werden, ist schon deshalb kaum möglich, weil alle Kandidaten von den Parteien bestimmt werden. Die für diese wichtigsten Bewerber sind über die Parteilisten abgesichert, die Überhang- und Ausgleichsmandate sind mit eher unbekannten Bewerbern besetzt. Entgegen der herrschenden Meinung kann das Stimmensplitting auch kaum die Koalitionspräferenzen der Wähler ausdrücken; denn nur ein Teil nutzt diese taktische Möglichkeit.

Die fragwürdigen Zufallsergebnisse des zu komplizierten Wahlsystems ließen sich ohne Schaden für die Demokratie vermeiden. Die Parteien müssten sich dazu durchringen, das geltende Zwei-Stimmen-System aufzugeben und alle Mandate nach dem Parteienproporz zu verteilen. Auf einen Schlag wären wir die praktischen und rechtlichen Probleme los, die sich zwangsläufig ergeben, wenn Überhangmandate entstehen.

" One man (or woman) - one vote" ist eine alte demokratische Grundregel. Die Bundesrepublik hat sie (schon im Jahr 1953) verlassen, und eine Rückkehr dazu ist bisher kaum einmal erwogen worden. Allerdings spricht ein wichtiger Aspekt gegen die Änderung dieses Systems: Die Wahlkreise müssten sehr groß werden oder sogar ganze Bundesländer umfassen (sonst ist die regionale Sitzverteilung sehr kompliziert). Damit würde sich die Distanz zwischen Wählern und Gewählten vergrößern, die örtliche Verwurzelung der Abgeordneten wäre gefährdet, und die zentralen Organe der Parteien hätten (durch die Aufstellung der Regional- oder Landeslisten) besonders viel Einfluss.

Um Überhangmandate zu vermeiden, würde es freilich schon genügen, die Verrechnung der Wahlkreissitze mit den Listen abzuschaffen. Damit könnte wirklich ein größeres Gewicht der Wahlkreisabgeordneten erreicht werden. Gegen dieses "Grabensystem", das zum Beispiel in Japan gilt, wird eingewandt, es gebe die Kräfteverhältnisse nicht ebenso genau wieder wie bei Verrechnung der Wahlkreismandate durch Überhang- und Ausgleichsmandate. Das trifft zu, aber eben dieser Effekt entspricht dem Ziel der Personalisierung. Allein auf die Listenwahl abzustellen, ist halbherzig: Man will den Charme der Personenwahl und doch die kühle Gesamtkalkulation nach Parteipräferenzen. Beim Grabensystem bliebe die Verteilung der Parlamentssitze auf Wahlkreise und Listen - zum Beispiel je zur Hälfte wie im gegenwärtigen Bundesrecht - erhalten. Das Bundesverfassungsgericht hat dagegen keine Einwände. Es hält auch andere Lösungen für verfassungskonform, und solche werden in der Fachliteratur erörtert.

Nachdem sich in den vergangenen Jahren die Parteien im Bundestag, die Experten und auch das Bundesverfassungsgericht in der schwierigen Materie regelrecht verhakt haben, wäre es an der Zeit, nochmals ohne Tabus nachzudenken. So sollten die Erwartungen an die Personalisierung der Wahl nicht zu hoch gesteckt werden. Gelegentlich wird behauptet, dass "nur Personen und nicht Parteien" gewählt werden (dürfen); aber das ist so weit von der Realität entfernt, dass auch sehr großer juristischer Idealismus nicht dagegen ankommt, und die damit verbundene Abwertung der Parteien ist unsinnig. Die meisten Wahlberechtigten kennen die Kandidaten nicht oder nur flüchtig aus den Medien, aber innerhalb der Parteien herrscht scharfer Wettbewerb um die Kandidaturen.

Wahlen sollen vor allem funktionsfähige Staatsorgane hervorbringen. Es ist gewiss geboten, die Sitzverteilung so zu gestalten, dass die Wahlentscheidungen proportional abgebildet werden, aber dieses Ziel muss gegen die funktionale Bedeutung der Wahl abgewogen werden. Niemand hat etwas davon, wenn alle Parlamentssitze arithmetisch genau nach dem Stimmverhältnis der Parteien zueinander verteilt werden, solange daraus nicht auch ein arbeitsfähiges Parlament hervorgeht.

© SZ vom 05.10.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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