Außenansicht:Ein echter Präsident für Europa

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Für eine Stärkung der EU wäre es also gut, wenn sie einen Kapitän hätte.

Von Mario Fortunato

Vor einigen Wochen hat EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker vor dem Europa-Parlament seine jährliche Rede zur Lage der Union gehalten. Diese Rede verdient auch nachträglich Beachtung. Weil ich weder Politologe noch Ökonom bin und noch weniger Soziologe oder Klimaforscher, werde ich mich jeden Kommentars enthalten zu seinen Ausführungen über Reformen und Gesetze, Arbeit und Industrie, Terrorismus und Migration, Brexit und Erderwärmung, den Themen, die seiner Ansicht nach bis 2025 angegangen werden müssen.

Weil ich nur Schriftsteller bin, ein Individuum also mit unsicherer Verankerung in der Realität und einem noch unsichereren Bankkonto, beschränke ich mich auf den weniger praktischen und mehr visionären Teil dieser Rede. Besonders auf die Passage, in der Juncker sagt, "Europa würde besser funktionieren, wenn wir die Aufgaben des Kommissionspräsidenten und des Präsidenten des Europäischen Rats vereinen würden", weil "Europa leichter zu verstehen wäre, wenn es auf dem Schiff nur einen Kapitän gäbe". Und weil ein einziger Präsident schließlich auch "das wahre Wesen der Europäischen Union besser widerspiegeln würde - das einer Union von Staaten und Union von Bürgern". Und da man bei der Fantasie zwar weiß, an welchem Punkt sie in Gang kommt, ihr Ziel sich aber regelmäßig als unbekannt erweist, möchte ich einen Schritt hinaus machen über die Rede des Kommissionspräsidenten und einen bescheidenen, doch sehr ernsthaften politischen und institutionellen Vorschlag unterbreiten.

Natürlich kann ich für meinen Vorschlag keinerlei Autorität beanspruchen, Und ich schreibe den Vorschlag auf, ohne mich darum zu kümmern, ob er technisch nachvollziehbar ist oder sexy für die Medien. Ich stütze mich - außer auf Junckers Worte - nur auf ein einfaches, und wie ich finde, unwiderlegbares Prinzip: Jede Demokratie braucht Rituale.

Es ist kein Zufall, dass die Bürger, je nach Land, alle vier oder fünf Jahre zu den Wahlurnen gerufen sind. Mit der Abstimmung drücken sie, also wir, nicht nur ihre Einstellung aus, sondern segnen das Ritual einer funktionierenden Demokratie offiziell ab. Zumindest der Form nach - und bekanntlich ist in einem Rechtsstaat die Form ja essenziell. Der Wahltag ist also eine Art weltlicher Feiertag, an dem man nicht einen Gott feiert, sondern sich selbst, das eigene Menschsein. In gewissem Sinn bekräftigen wir alle - auch wer nicht wählt - am Wahltag unser Recht und unsere Pflicht, nicht nur an einen (Diktator) zu glauben, sondern an so viele wie wir selber sind, polytheistisch und frei vereint in Parteien und Gruppierungen, die uns repräsentieren.

Dieser Präsident von Rat und Kommission sollte direkt gewählt werden dürfen

Wenn das also stimmt, und man muss kein Tocqueville oder Montesquieu sein, um das zu begreifen, dann erscheint für das Auge jedes Normalbürgers die Europäische Union schwach und brüchig genau auf diesem Gebiet. Gewiss, wir haben auf dem Kontinent Bewegungsfreiheit errungen (die der vom IS ferngesteuerte Terrorismus gefährdet, den an unseren Stadträndern aufgewachsene Jugendliche ausüben); wir können in anderen Mitgliedsländern unser Handy nutzen, ohne wahnsinnige Auslandstarife zahlen zu müssen; alle fünf Jahre bestimmen wir in allgemeinen, unmittelbaren Wahlen - aber auf nationaler Basis - das Parlament, das - aus Gründen, die sich der allgemeinen Logik entziehen - ein bisschen Sitz hat in Straßburg und ein bisschen in Brüssel. Was uns, was der Europäischen Gemeinschaft fehlt, ist das (regelmäßige und möglicherweise sogar widersprüchliche) Bewusstwerden der eigenen Identität.

Die Regierungen haben das versucht, als man vor mehr als zehn Jahren von der Europäischen Verfassung sprach. Ich erinnere mich, dass ich in jenen Jahren bei mindestens zwei europäischen Schriftstellertreffen war, in Hamburg und in Rom. Wir hatten den Ehrgeiz, an der Debatte über unsere kulturellen Wurzeln mitzuwirken. Die negativen Volksabstimmungen erst in den Niederlanden 2005, dann in Frankreich, haben alles weggefegt. Das politische Projekt kam zum Stillstand, das kulturelle starb bei der Geburt - also Adieu, Europa der Völker, willkommen Europa der Banken, dessen katastrophale Folgen die Geschichte der vergangenen zehn Jahre bestimmt haben.

Genau deshalb scheint mir Junckers Rede zumindest in den erwähnten Abschnitten großer Beachtung würdig. Man kann von seiner völlig vernünftigen, verständlichen Idee aus einen größeren Schritt gehen. Und deshalb schlage ich vor, dass die neue Figur des einzigen Präsidenten von Kommission und Europäischem Rat nicht vom Parlament gewählt wird, dem zwischen Brüssel und Straßburg, sondern in allgemeinen Wahlen, also auch in Tinos in Griechenland, in Wrocłav (Breslau) in Polen, im italienischen Crotone, in Saint Nazaire in Frankreich, im deutschen Bad Oeynhausen. In Estepona in Spanien, in Maardu in Estland, Turku in Finnland und so fort in den anderen 19 Ländern.

So eine von allen gewählte Gestalt, am besten am selben Tag, an dem 2019 das neue Europaparlament bestimmt wird, hätte sicher einen viel mächtigeren Symbolwert als jede andere Initiative, die man sich heute im europäischen Kontext vorstellen kann. Denn erstens würde dies unsere kontinentale Demokratie zu ritualisieren beginnen, sie also ernsthaft zu vereinigen, indem sie jedem Bürger Kraft und Stimme wiedergäbe, um seine Haltung auszudrücken. Und zweitens würde es die Wähler dem wieder näher bringen, was heute weithin gesehen wird als Bürokratenkaste von Superprivilegierten zwischen Straßburg und Brüssel, wenn es mit dem Präsidenten zumindest eine vereinende Figur geben würde. Ihr individuelles Gesicht wäre natürlich leichter und unmittelbarer wiederzuerkennen als das einer Masse von 750 Parlamentsabgeordneten. Es wäre unwichtig, ob so ein Präsident ohne spezifische, wirkungsvolle Machtposition wäre. Schon die Vetomacht und die Tatsache, dass er uns alle repräsentiert, würde seinem Amt einen ethischen Wert und übernationales Ansehen verleihen, die unumstritten wären.

Ich weiß und wiederhole es - ich habe keine Zahlen, um erwarten zu können, dass die Debatte über Politik und Institutionen meinen Vorschlag in nächster Zeit aufgreift. Dazu kommt, dass Angehörige meines Standes traditionell öfter die Rolle der Kassandra, wenn nicht Ciceros gespielt haben, der ein glänzender Redner und Autor war, dessen politische Karriere aber im Desaster und im Tod endete. Nun, wir dürfen trotzdem hoffen, dass ein bisschen Vorstellungskraft unsere europäische politische Klasse überkommen möge.

© SZ vom 30.10.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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