Außenansicht:Die Zukunft ist nah

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Was wird in hundert Jahren sein? Seit 250 Jahren fragen sich das die Menschen - und schwanken zwischen Euphorie und Depression. Doch trotz aller Zersplitterungen der Zukunft in viele Zukünfte kommen wir auch heute ohne Visionen nicht aus.

Von Lucian Hölscher

Jahreswechsel lenken den Blick auf die Zukunft. Aber welche Zukunft? Wir machen uns leicht Illusionen über unsere Fähigkeit, die Zukunft vorauszusagen. Seit Beginn der Moderne hat sich zwar das aktive Verhältnis der Menschen zur Zukunft verstärkt: Was einmal sein wird, gilt aufgeklärten Zeitgenossen seither nicht mehr als vorgegeben, sondern als offen. Das macht die Sache aber kaum besser. Alle Prognosen stoßen über kurz oder lang auf unvorhergesehene Hindernisse. Die durchkreuzen alle Planungen, und wir erscheinen als Ohnmächtige, die sich viele Vorstellungen von dem machen, was kommen wird, und doch damit scheitern.

Was also tun? Stillhalten und die Zukunft Gott anheimstellen? Das wird kaum ausreichen. An der Zukunft hängt unser ganzes Leben; hängt die langfristige Investition in der Wirtschaft, der Konsens in der Politik, vielleicht sogar unser Seelenheil. Wer aber etwas über die Zukunft wissen will, muss sich an die Vergangenheit halten. Daran führt auch heute kein Weg vorbei. Alle Formen von Prognosen, bis hin zu komplexen kybernetischen Techniken, beschreiten ihn, wenn auch mit begrenztem Erfolg: Was dann tatsächlich kommt, unterscheidet sich doch immer von dem, was erwartet wurde.

Die Fähigkeit, eine Zukunft zu entwerfen, hat keineswegs immer schon bestanden, sondern sich in Europa erst im Lauf der frühen Neuzeit herausgebildet. Im europäischen Mittelalter fehlten die sprachlichen Voraussetzungen, von der Zukunft zu reden; den Begriff der "Zukunft" selbst oder die grammatikalische Form des Futurs gab es zunächst nur im Lateinischen und Griechischen, nicht aber im Deutschen und in anderen indogermanischen Sprachen. Es fehlte überhaupt das Bewusstsein von einem kommenden Zeitraum, gar einem, den man in Jahrhunderten langfristig ausmessen kann. Das Ende der Welt stand immer nahe bevor, für große Veränderungen fehlte die Vorstellung.

Wenn aber die Zukunft eine historisch begrenzte Denkform ist, dann stellt sich die Frage, wie lange sie noch bestehen wird. Sind wir schon dabei, sie hinter uns zu lassen? Manches spricht dafür. Da ist die einsetzende Dekonstruktion "der Zukunft" in viele "Zukünfte", die alle Projektionen der jeweiligen Gegenwart sind, ohne Anspruch, das, was tatsächlich sein wird, zu antizipieren. Wird es eine Zukunft im Sinne des 19. Jahrhunderts künftig noch geben? Überhaupt ist die Beschäftigung mit vergangenen Zukunftsentwürfen lehrreich. Die Kolonialutopien des 19. Jahrhunderts oder die Vorstellung der Nationalsozialisten vom "Tausendjährigen Reich" hinterlassen ihre Spuren, auch wenn sie sich nicht realisiert haben. Sie scheinen, selbst wenn sie vorerst gescheitert sind, selten für immer vernichtet zu sein. So erlebte etwa die Naturschutzbewegung aus der Zeit um 1900 eine überraschende Renaissance in der Umweltbewegung. Wer wollte da die Hand dafür ins Feuer legen, dass nicht auch sozialistische, ja selbst die nationalsozialistische Zukunftserwartung dereinst wieder Konjunktur haben werden?

Wir werden sehen, dass es gut war - kein Politiker kommt mehr ohne dieses Futur II aus

Aufmerksamkeit verdienen schließlich die Bilder, die wir, gewissermaßen im Futur II, im Rückblick aus einer vorgestellten Zukunft entwerfen. Sie dienen der Vereindeutigung einer überkomplexen Gegenwart. Ein Beispiel ist die politische Situation vom Herbst 2015, als Hunderttausende Flüchtlinge über die Balkanroute nach Deutschland drängten und die Frage anstand, ob für sie die Grenzen geschlossen werden sollten. Da war es plausibel, sich mit Angela Merkel eine Situation in zehn oder 15 Jahren vorzustellen, in der sich die Offenhaltung der Grenzen als weise Entscheidung herausstellen würde: als ein humanitärer Akt, der dem Land zur Ehre gereichen würde, aber angesichts der schrumpfenden deutschen Bevölkerung auch als kluger wirtschaftspolitischer Schritt. Der Entwurf zukünftiger Vergangenheiten ist ein politisches Instrument, ohne das Politiker heute kaum noch auskommen.

Erst seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert fassen die europäischen Gesellschaften langfristige Zukunftsentwicklungen ins Auge. Diese Vorstellungen durchliefen Phasen der Zukunftseuphorie und Zukunftsdepression, die jeweils etwa sechzig Jahre oder zwei Generationen dauerten: 1770, 1830, 1890 und 1950 markieren die bisherigen Epochen des Aufbruchs, auf die dann jeweils Depressionsphasen folgten. So waren die 1970er- und 1980er-Jahre die Zeit der großen Katastrophenszenarien: vom Waldsterben und Ozonloch über die Kernschmelze in Atomkraftwerken bis hin zur Finanzkrise und zur Klimakatastrophe. Wenn diese Zyklen so weitergehen, stehen wir heute an der Schwelle zu einer neuen Phase der Zukunftseuphorie - das Ende der Zukunft ist noch lange nicht nah.

Der Bochumer Historiker Lucian Hölscher , 69, forscht zur Geschichte der Zukunft

© SZ vom 30.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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