Außenansicht:Die Zeit drängt

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Europa kann die Flüchtlingskrise nur bewältigen, wenn es jetzt sehr viel Geld ausgibt.

Von George Soros

Auf der Geberkonferenz für syrische Flüchtlinge am 4. Februar in London wurden bedeutende Fortschritte erzielt, doch es bleibt noch viel zu tun. Die internationale Gemeinschaft unterschätzt den Bedarf an Unterstützung für die Flüchtlinge nach wie vor enorm, und zwar sowohl innerhalb als auch außerhalb der Grenzen der Europäischen Union. Die Flüchtlingskrise zu bewältigen und dabei das überwiegend ungenutzte hervorragende Kreditrating der EU - es liegt bei der Bestnote AAA - besser auszuschöpfen, erfordert einen Paradigmenwechsel.

Statt Jahr für Jahr unzureichende Geldmittel für die Flüchtlinge zusammenzukratzen, ist es Zeit für eine großzügige Anschubfinanzierung. Zum Einstieg richtig Geld auszugeben wäre sehr viel effektiver, als über mehrere Jahre hinweg denselben Betrag bereitzustellen. Die Ausgaben vorzuziehen, würde uns in die Lage versetzen, die gefährlichsten Folgen der Krise - die einwandererfeindliche Stimmung in den Aufnahmeländern und das Elend und die Marginalisierung der Flüchtlinge - wirksamer anzusprechen. Große Anfangsinvestitionen würden dazu beitragen, die wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Dynamik weg von Fremdenfeindlichkeit und Unzufriedenheit und hin zu konstruktiven Ergebnissen zu lenken. Davon würden Flüchtlinge und Aufnahmeländer gleichermaßen profitieren.

Dafür gibt es Vorbilder. Eine derartige Anschubfinanzierung wird etwa zur Finanzierung von Impfkampagnen genutzt. Die Internationale Finanzfazilität für Immunisierungen (IFFIm), die durch künftige staatliche Beiträge abgesicherte Kredite aufnimmt, hat in den vergangenen Jahren Millionen von Dollar aufgenommen, um dafür zu sorgen, dass Impfkampagnen schnellstmöglich Erfolg zeitigen. Langfristig ist dies wirksamer als Jahr für Jahr die gleiche Summe auszugeben. Die IFFIm bietet damit einen überzeugenden Präzedenzfall für die derzeitige Krise.

Ein plötzlicher großer Zustrom von Flüchtlingen kann eine Panik verursachen, die die breite Öffentlichkeit, die Behörden und - was am destruktivsten ist - die Flüchtlinge selbst ergreift. Diese Panik ruft dann den unbegründeten Eindruck hervor, dass die Flüchtlinge eine Last und eine Gefahr sind. Dies führt zu teuren, kontraproduktiven Maßnahmen wie der Errichtung von Zäunen und Mauern und der Ballung von Flüchtlingen in Lagern, die dann ihrerseits für Frustration und Verzweiflung unter den Flüchtlingen sorgen. Wenn die Weltgemeinschaft ein umfassendes, konzentriertes Programm zur Bewältigung des Problems finanzieren könnte, würde dies zur Beruhigung sowohl der breiten Öffentlichkeit als auch der Flüchtlinge führen.

Notwendig wäre eine Anschubfinanzierung von jährlich 40 Milliarden Euro

Sowohl in Europa als auch in Frontstaaten Syriens wie Jordanien, Libanon und der Türkei ist eine dramatische Erhöhung der Ausgaben erforderlich. Zu den notwendigen Investitionen gehören sowohl eine Überarbeitung der Asylpolitik der EU als auch die Verbesserung ihrer Grenzkontrollen. In den Frontstaaten wird Geld benötigt, um den Flüchtlingen reguläre Beschäftigungsverhältnisse, Gesundheitsversorgung und Bildung zur Verfügung zu stellen. Wenn man das Leben für die Flüchtlinge in den Frontstaaten erträglich macht und sie der Ansicht sind, dass es ein geordnetes Verfahren für die Einreise nach Europa gibt, werden sie eher abwarten, bis sie an der Reihe sind, als nach Europa zu hetzen und das System zu überlasten. In ähnlicher Weise wird, wenn die Flüchtlingskrise unter Kontrolle gebracht werden kann, die Panik nachlassen. Die europäische Öffentlichkeit wird dann weniger bereit sein, eine einwandererfeindliche Politik zu unterstützen.

Jordanien könnte in dieser Hinwicht ein Testfall werden. Das Land mit seinen 9,5 Millionen Menschen bietet nicht weniger als 2,9 Millionen Nichtbürgern eine Zuflucht, darunter 1,27 Millionen Syrern. Jetzt steht es vor dem Zustrom zusätzlicher Syrer, die durch die russischen Bombardements entwurzelt wurden. Jordanien braucht eine Kombination aus unmittelbarer, massiver Unterstützung zum Einstieg, der Ausweitung von Handelspräferenzen und der Stundung seiner Auslandsschulden. Ein erfolgreiches Programm für Jordanien könnte die Fähigkeit der internationalen Gemeinschaft unter Beweis stellen, die Flüchtlingskrise unter Kontrolle zu bringen, und den Weg freimachen für ähnliche Programme für andere Frontstaaten, die in Abhängigkeit von den örtlichen Bedingungen fallweise anzupassen wären.

Der hier vorgeschlagene Ansatz würde mehr kosten, als sich die EU-Mitgliedstaaten aus ihren derzeitigen Haushaltsmitteln leisten können. Tatsächlich ist der Mangel an einer angemessenen Finanzausstattung bisher das Haupthindernis bei der Umsetzung erfolgreicher Programme in den Frontstaaten, insbesondere der Türkei. In den kommenden drei bis fünf Jahren müssen mindestens 40 Milliarden Euro jährlich ausgeben werden. Noch größere Beträge sind gerechtfertigt, wenn es gelingen soll, die Migrationskrise unter Kontrolle zu bringen. Während Deutschland einen noch nicht zugewiesenen Haushaltsüberschuss von sechs Milliarden Euro hat, weisen andere EU-Länder Defizite auf. Finanzminister Wolfgang Schäuble hatte bereits eine europaweite Brennstoffsteuer vorgeschlagen, aber diese würde entweder eine einstimmige Entscheidung oder eine "Koalition der Willigen" erfordern.

Dies unterstreicht die Vorzüge des Rückgriffs auf die weitgehend ungenutzte AAA-Bonität der Europäischen Union. Die Migrationskrise stellt eine existenzielle Bedrohung für die EU dar. Tatsächlich zeigt die Union Auflösungserscheinungen - Nord steht gegen Süd und Ost gegen West. Wann also sollte das AAA-Kreditrating der EU genutzt werden, wenn nicht im Augenblick einer tödlichen Gefahr für die EU? Es ist nicht so, als gäbe es keinen Präzedenzfall für einen derartigen Ansatz; zu allen Zeiten haben Regierungen als Reaktion auf nationale Notfälle Anleihen ausgegeben.

Den AAA-Kreditrahmen der EU auszunutzen, statt den Konsum zu besteuern hat den zusätzlichen Vorteil, dass Europa dringend benötigte wirtschaftliche Impulse bekommen würde. Die Beträge, um die es geht, sind groß genug, um von gesamtwirtschaftlicher Bedeutung zu sein, insbesondere weil sie fast sofort ausgegeben werden würden und so einen Multiplikatoreffekt hätten. Mehr Wirtschaftswachstum würde die Aufnahme von Einwanderern deutlich erleichtern, egal ob es sich dabei um Flüchtlinge oder um Wirtschaftsmigranten handelt.

Kurz gesagt: Von einer derartigen Anschubfinanzierung würden alle Seiten profitieren - und die Zeit drängt.

© SZ vom 18.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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