Außenansicht:Die politische Kultur pflegen

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Heiner Müller-Ermann, 68, arbeitete als Journalist beim Bayerischen Rundfunk. Er ist seit 1968 Mitglied der SPD und war 25 Jahre Sprecher der Bürgerinitiative gegen die Isentalautobahn. (Foto: privat)

In Initiativen und NGOs engagieren sich viele, in Parteien jedoch nicht. Ein Fehler.

Von Heiner Müller-Ermann

Auch wenn der Schulz-Hype ein paar Tausend neue Mitglieder gebracht hat - seit 1990 ist die Zahl der SPD-Mitglieder von einer Million auf die Hälfte gesunken. Nur wenig besser ist es bei der Union. Das Alarmierendste jedoch ist der Altersdurchschnitt. Parteimitglieder sind heute im Schnitt 60 Jahre alt und liegen damit weit über dem Bevölkerungsschnitt von 44. Und selbst die Parteigänger der Grünen sind im Durchschnitt 50 Jahre alt. Sind die jungen Leute also alle unpolitisch geworden?

Das Gegenteil ist der Fall. Noch nie, auch nicht in der Zeit der 68er, waren so viele Menschen in Initiativen und NGOs engagiert wie heute. Von Attac bis zum Kartoffelkombinat, von Green City bis zu Prima Klima schließen sich Leute zusammen. Sie treffen sich beim Stadtgärtnern, in Büros oder bei virtuellen Kampagnen im Netz. Aber um die Parteien - und damit um die Politik in den Parlamenten - machen die allermeisten einen großen Bogen. Das ist erst mal gut verständlich.

In den Parteien ist es für ein normales Mitglied schlicht und einfach langweilig geworden. Inhaltliche Auseinandersetzungen an der Basis finden kaum mehr statt. Wo sind die Kreisverbände, die mit ihren Abgeordneten streng diskutieren, über deren Abstimmungsverhalten in der Energiepolitik oder bei Privatisierungen? Gar die Parteitage. Sie werden heute durchgestylt und mediengerecht aufbereitet, das Zusammentreffen der Grünen am vergangenen Wochenende war nur ein Zeugnis davon. Unbequeme Anträge verschwinden in Sammelpaketen und Antragsbüchern, und am wichtigsten erscheint, dass der Applaus für den Vorsitzenden nach Minuten gezählt werden kann. Von der Freude am Politisieren, vom produktiven Streit ist in den Parteien nicht mehr viel zu spüren.

Aber es ging auch mal anders. Selbst zu Zeiten der sogenannten Macher Helmut Schmidt und Herbert Wehner dauerten Parteitage eine Woche, in hitzigen Debatten wurden politische Entwürfe geschmiedet. Für ein Betriebsverfassungsgesetz, für die Mitbestimmung, zum Abtreibungsparagrafen 218 und vieles mehr. Undenkbar, dass grundlegende Dinge wie Hedgefonds, Leiharbeit oder Bankenrettung lediglich von einer Handvoll Parteioberen entschieden worden wären. Warum also in Parteien gehen?

Gerade deshalb! Dort hängen der Hammer und all die anderen Werkzeuge, die man braucht, um Politik zu machen. Es sind weiterhin die Parteien, die jene Leute auswählen, die in den Parlamenten die Gesetze machen. Solange es nichts anderes gibt, um den politischen Willen von unten nach oben zu tragen und dort schließlich mit Mehrheitsentscheidungen unsere Zukunft zu gestalten - so lange ist es einfach unsinnig, die Parteien nicht zu nutzen.

Die Basis ist immer schläfriger und bequemer geworden. Doch weshalb muss das so bleiben?

Kurzum, wer eine andere Politik will, muss dahin, wo Politik gemacht wird. Auch wenn die Partei-Werkstätten ziemlich verlottert und die Werkzeuge oft stumpf sind. Werkstätten lassen sich aufräumen, Werkzeuge kann man schärfen. Der heutige Zustand ist keinem Naturgesetz geschuldet. Es ist vielmehr das Versagen der Basis, die immer schläfriger und bequemer geworden ist. Sie hat die einstige Lust an der politischen Auseinandersetzung eingetauscht gegen die vage Erwartung, die Oberen würden es schon richten.

Welch kuriose Hoffnung. Als ob nicht jede Spitze froh wäre, wenn die Unteren Ruhe geben. Dann können sie ja tatsächlich umso unbeirrter alles selbst richten. Wobei der Blick meist eben nur bis zu den nächsten Wahlen geht und nicht zu einer enkeltauglichen Zukunft. Aber wie soll das besser werden, wenn die Alten resignieren und die Jungen draußen bleiben? Illusorisch ist übrigens auch die Erwartung, Parteien würden einfach absterben, würden Platz für Neues machen, wenn niemand mehr hinzukommt. Nein, profitieren vom Rückzug der wirklich politischen Köpfe würden lediglich die Karrieristen und die Wichtigtuer. Sie hätten allein das Sagen.

Um nicht missverstanden zu werden: Dies ist kein Appell, die Arbeit in den Initiativen und NGOs aufzugeben und nur noch in den Parteien zu agieren. In den Organisationen, vom großen BUND bis zum lokalen Energie-Stammtisch, ist jede Menge Sachverstand und kreatives Denken versammelt. Da gibt es weniger Hierarchien und taktische Zwänge. Alles richtig, aber eben nur die eine Hälfte. Denn um das, was dort erdacht und konzipiert wird, auch umzusetzen, braucht es Regelungen und Gesetze. Es braucht letztlich Mehrheiten im Parlament.

Warum sind in Deutschland immerhin schon elf von 19 Atomkraftwerken abgeschaltet? Warum sind die Lichter dennoch nicht ausgegangen? Weil Ende des vergangenen Jahrhunderts so viele engagierte Leute in Initiativen Druck gemacht haben wegen der Gefährlichkeit der Urannutzung. Gleichzeitig gab es immer mehr Ideen für den Einsatz regenerativer Energien. Entscheidend aber war, dass auch in den Parteien - in diesem Fall bei SPD und Grünen - genügend Mitglieder waren, die diese Themen vorantrieben. Da wurde mit den Abgeordneten an der Basis diskutiert und gestritten. Da wurde um Mehrheiten gerungen. In den Ortsvereinen, Kreisverbänden und letztlich auf Parteitagen. Oft waren die Parteimitglieder selbst aktiv in den Initiativen oder man holte deren Experten in die Versammlungen.

Es war eine klassische Doppelstrategie. Die kreativen, engagierten Fachleute aus den gesellschaftlichen Gruppen einerseits und die erfahrenen, politischen Handwerker aus den Parteien auf der anderen Seite schufen miteinander ein Atomausstiegs- und ein Erneuerbare-Energien-Gesetz. Warum schaffen wir nicht etwas Vergleichbares mit einem Kohleausstiegsgesetz?

Die Antwort, siehe oben. All die sachkundigen Gruppen und Initiativen mit ihren richtigen Forderungen und guten Konzepten sind eben nur die eine Hälfte. Eine gelungene Strategie aber braucht auch den zweiten Teil. Es nutzt also nichts - wer politisch wirksam werden will, kann die Parteien nicht links liegen lassen. Wer ein Gesetz will, muss zu jenen gehen, die Gesetze machen. Wer Abgeordnete mit mehr Weitblick haben will, muss dorthin, wo er bei ihrer Aufstellung mitbestimmen kann. Nota bene: Weder Angela Merkel noch Martin Schulz, ja nicht einmal Horst Seehofer können eine Abgeordnete aufstellen, sollte die Parteibasis jemand anderen wollen.

Wenn die Engagierten, die politisch Aufgeweckten sich wieder der Parteien erinnern, dann wird es dort auch spannender. Die Lust am Politisieren kommt dann zurück, und mancher Parteifunktionär wird sich vermutlich verwundert die Augen reiben, wenn ihm eine lebendige und selbstbewusste Basis sagt, in welche Richtung sie gehen will.

© SZ vom 20.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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