Außenansicht:Der Westen darf nicht schweigen

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Repression und Abriegelung des Landes gefährden die Zukunft Chinas.

Von Kristin Shi-Kupfer

Am Wochenende beginnt die Jahrestagung des Nationalen Volkskongresses. Schon bevor dieses Quasi-Parlament zusammentritt, hat Partei- und Staatschef Xi Jinping seine Kontrolle über das Land demonstrativ verschärft: Durch live übertragene Redaktionsbesuche und Disziplinarkontrollen schwört er die Medien auf die Parteilinie ein. Online-Publikationen ausländischer Firmen oder von Joint-Ventures - seien es nun Bücher oder Computerspiele - sind von nun an verboten. Gleichzeitig weitet die Partei den Umfang der Kontrolle aus: Kritische Chinesen geraten sogar jenseits der chinesischen Grenzen in die Fänge der Sicherheitsbehörden. Ähnlich ergeht es Ausländern, die der "Gefährdung der nationalen Sicherheit" verdächtigt werden. Getroffen hat es Buchhändler in Hongkong, die China-kritische Werke im Angebot führten, ebenso ausländische Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisationen. Im Staatsfernsehen werden sie zu "Geständnissen" gezwungen. Nur so meint Xi offenbar, seine Vision für die Volksrepublik unter Führung der Kommunistischen Partei im 21. Jahrhundert verwirklichen zu können. Um den (Wieder-)Aufstieg zur Weltmacht zu schaffen, muss das Land politisch handlungsfähig, wirtschaftlich hoch entwickelt und gesellschaftlich stabil sein. Aus Sicht von Xi ist eine Zivilgesellschaft mit Stabilität nicht vereinbar, daher muss eine "zivilisierte" Gesellschaft her.

Konkret heißt dies, dass die Bürger nur noch dort aktiv sein dürfen, wo es der Führung genehm ist: Sie sollen mehr konsumieren, damit die Wirtschaft wächst. Nahezu jeder darf inzwischen ein Unternehmen gründen, schließlich möchte die Regierung Begeisterung für Start-ups wecken und so möglichst viele arbeitslose Akademiker in Lohn und Brot bringen und Innovation befördern. Wissenschaftler sollen Spitzenforschung betreiben und den Nachwuchs gewissenhaft ausbilden.

Gleichzeitig aber werden die Online-Zugänge zu ausländischen Datenbanken immer stärker kontrolliert. Forschungsreisen werden auf "westliche Infiltration" hin geprüft. Westliche Lehrbücher, insbesondere in den Geisteswissenschaften, werden mit Misstrauen gesehen. Dozenten lehren vielerorts unter Beobachtung: Videokameras sollen dokumentieren, wer zu kritisch über China spricht. Gute Taten und vor allem großzügige Spenden für sozial Schwächere sind hoch willkommen, sofern niemand die Regierenden für die Missstände verantwortlich macht.

In den vergangenen sechs Monaten haben Chinesen eine Billion Dollar verlagert

Wer versucht, kollektive Interessen autonom zu organisieren und zu artikulieren, wird offen eingeschüchtert oder gleich weggesperrt - so wie nie zuvor seit Beginn der Reform- und Öffnungspolitik. Seit dem Amtsantritt von Xi Jinping im Frühjahr 2013 hat die Führung zuerst Blogger ins Visier genommen, dann Journalisten, Wissenschaftler, Künstler, Rechtsanwälte und zuletzt Arbeiteraktivisten. Und das, obwohl die Arbeiter laut Verfassung wie auch den Parteistatuten immer noch die "führende Klasse" in China bilden. Selbst das Strafprozessrecht scheint für die Führung nicht viel wert zu sein: Schuldgeständnisse im Fernsehen und die Selbstbezichtigung von Verdächtigten vor Prozessbeginn verbieten dieses klar. Dennoch ist beides an der Tagesordnung. In China dominiert die Staatsräson: Modellhaft und medial wirkungsvoll sollen alle potenziellen "Feinde" abgeschreckt werden, Gesetz hin oder her. Wenn nötig, erlässt der unter KP-Kontrolle stehende Oberste Volksgerichtshof schnell eine "Justizerklärung", die jede Strafverschärfung rechtfertigt und langwierigere Gesetzgebungsverfahren erspart.

Die Folgen für die Zukunft Chinas sind verheerend. In den vergangenen sechs Monaten haben Unternehmen und Einzelpersonen etwa eine Billion Dollar außer Landes gebracht. Nach Berichten des Forschungsinstituts Hurun Report Inc. sind zwei Drittel der befragten Millionäre bereits ausgewandert oder planen, dies zu tun. Die Beweggründe sind immer die gleichen: bessere Bildung für die Kinder, saubere Luft und sichere Nahrungsmittel, unausgesprochen aber auch Schutz vor Überwachungsbehörden, die womöglich das eigene Vermögen antasten wollen. Wer nicht gehen kann, riskiert mitunter im eigenen Land den Protest: Laut der Hongkonger Arbeiterrechteorganisation China Labour Bulletin hat sich die Zahl der Streiks 2015 im Vergleich zum Vorjahr verdoppelt. Allein in diesem Januar gab es so viele Proteste wie 2011 und 2012 zusammen.

Auch die chinesische Mittelschicht, die lange Zeit vom Wachstum profitiert und das System gestützt hat, beginnt die Geduld zu verlieren: Misstrauische Angehörige von verstorbenen Patienten attackieren Krankenschwestern und Ärzte mit Messern. In den vergangenen fünf Jahren hat sich die Zahl der Zwischenfälle dieser Art auf circa 70 000 verfünffacht. Proteste gegen den Bau potenziell umweltschädlicher Fabriken brechen selbst in einer streng unter Kontrolle stehenden Metropole wie Shanghai aus - zuletzt im Sommer mit an die 10 000 Teilnehmern. Selbst ernannte Patrioten fahren mit Booten aufs Meer, um auf den von China beanspruchten Inseln Flaggen zu hissen, oftmals gegen den Willen der Regierung in Peking. Zusammen mit Ultranationalisten setzen sie die chinesische Führung unter Druck, der aggressiven Rhetorik des Außen- und Verteidigungsministeriums im südchinesischen Meer endlich Taten folgen zu lassen. "Liefern anstatt nur schwafeln sollen die" - so wie Wladimir Putin, heißt es in den Forderungen.

Eine verunsicherte Ober- und Mittelschicht in China kann weder im wirtschaftlichen noch politischen Interesse des Westens sein. Ein geistig ersticktes Bürgertum war noch nie Garant für eine offene Gesellschaft oder eine Öffnung des Landes. Eine psychotische Polarisierung der Massen gefährdet vielmehr den sozialen Frieden, der die Voraussetzung für Prosperität und Wachstum bildet.

Westliche Regierungen, die eng mit China kooperieren, dürfen dazu nicht schweigen. Heute werden in der Volksrepublik demokratische und rechtsstaatliche Errungenschaften stillschweigend relativiert, und infrage gestellt. Der chinesischen Führung sollten klare rote Linien im Umgang mit Rechtsverletzungen aufgezeigt werden. Gesellschaftlichen Partnern in China gilt es, Gespräche und Unterstützung anzubieten: IT-Unternehmern, die sich für ein offenes Internet einsetzen; Rechtsanwälte, die unerschrocken für rechtsstaatliche Prinzipien eintreten, oder Chinesen im Ausland, welche die Vorteile der Demokratie und des Rechtsstaats demonstrieren. Letztlich werden diese gesellschaftlichen Kräfte - nicht aber Xi Jinping - über die Zukunft der Volksrepublik entscheiden.

© SZ vom 03.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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