Außenansicht:Der Fehler der Unfehlbarkeit

Verabschiedung Hans Küng

Hans Küng, 88, ist Theologe und Autor. Er gilt als einer der bekanntesten Kirchenkritiker, 1979 entzog ihm Papst Johannes Paul II. die kirchliche Lehrbefugnis.

(Foto: Daniel Bockwoldt/dpa)

Eines der größten Dogmen der katholischen Kirche hemmt jegliche ernsthafte Reform.

Von Hans Küng

Kaum vorstellbar, dass Papst Franziskus eine Definition der päpstlichen Unfehlbarkeit angestrebt hätte, wie sie im 19. Jahrhundert Pius IX. mit allen schönen und weniger schönen Mitteln betrieben hat. Auch nicht vorstellbar, dass Franziskus wie Pius XII. an der Definition eines unfehlbaren Mariendogmas interessiert wäre. Eher vorstellbar, dass Papst Franziskus (wie seinerzeit Johannes XXIII. vor Studenten des griechischen Kollegs) lächelnd erklären würde: "Io non sono infallibile" - "Ich bin nicht unfehlbar". Johannes hatte angesichts des Erstaunens der Studenten hinzugefügt: "Ich bin nur unfehlbar, wenn ich ex cathedra definiere, aber ich werde nie ex cathedra definieren."

Am 18. Dezember 1979 entzog mir Papst Johannes Paul II. wegen meiner Infragestellung der päpstlichen Unfehlbarkeit meine kirchliche Lehrbefugnis. Es handelte sich um eine generalstabsmäßig vorbereitete Geheimaktion, die sich als juristisch anfechtbar, theologisch unbegründet und politisch kontraproduktiv erwiesen hat. Damals hielt die Debatte um diesen Missio-Entzug und die Unfehlbarkeit noch lange an. Mein Ansehen im Kirchenvolk konnte jedoch nicht zerstört werden.

Es haben auch die Auseinandersetzungen um die großen Reformaufgaben nicht aufgehört. Im Gegenteil, unter den Pontifikaten von Johannes Paul II. und Benedikt XVI. haben sie sich dramatisch verschärft. Die Themen waren: Verständigung zwischen den Konfessionen, gegenseitige Anerkennung der Ämter und der Abendmahlsfeiern, Fragen der Ehescheidung und der Frauenordination, zum Zwangszölibat und zum katastrophalen Priestermangel, vor allem zur Leitung der katholischen Kirche. Die Frage hinter allem lautete: "Wohin führt ihr unsere Kirche?"

Diese Anfragen sind nach 35 Jahren so aktuell wie damals. Der entscheidende Grund für die Reformunfähigkeit auf all diesen Ebenen aber ist nach wie vor die Doktrin von der Unfehlbarkeit des Lehramts, die unserer Kirche einen langen Winter beschert hat. Wie damals Johannes XXIII. versucht heute Papst Franziskus mit allen Kräften, frischen Wind in die Kirche zu blasen. Und trifft auf massiven Widerstand wie bei der letzten Weltbischofssynode im Oktober 2015. Man täusche sich nicht, ohne eine konstruktive "Re-vision" des Unfehlbarkeitsdogmas wird eine wirkliche Erneuerung kaum möglich sein.

Umso erstaunlicher ist es, dass die Diskussion darüber von der Bildfläche verschwunden ist. Viele katholische Theologen haben sich aus Angst vor bedrohlichen Sanktionen wie in meinem Fall kaum mehr kritisch mit der Unfehlbarkeitsideologie beschäftigt. Und die Hierarchie versucht, das in Kirche und Gesellschaft unpopuläre Thema nach Möglichkeit zu vermeiden. Nur wenige Male hat sich Joseph Ratzinger als Glaubenspräfekt ausdrücklich darauf berufen. Aber unausgesprochen hat das Tabu der Unfehlbarkeit alle Reformen seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil blockiert, die eine Revision früherer dogmatischer Festlegungen erfordert hätten.

Die antimoderne Epoche des Ersten Vatikanischen Konzils ist endgültig abgelaufen

Das gilt nicht nur für die Enzyklika "Humanae vitae" gegen die Empfängnisverhütung, sondern auch für die Sakramente und das monopolisierte "authentische" Lehramt, das Verhältnis von besonderem und allgemeinem Priestertum. Es gilt ebenso für eine synodale Kirchenstruktur und den absoluten päpstlichen Machtanspruch sowie für das Verhältnis zu anderen Religionen, wie auch zur säkularen Welt überhaupt. Deshalb stellt sich die Frage dringender denn je: Wohin steuert zu Beginn des 21. Jahrhunderts diese immer noch auf das Unfehlbarkeitsdogma fixierte Kirche? Die antimoderne Epoche, die das Erste Vatikanische Konzil eingeläutet hatte, ist heute endgültig abgelaufen.

2016 ist mein 88. Lebensjahr. Ich habe noch einmal keine Mühe gescheut, um für Band 5 "Unfehlbarkeit" meiner "Sämtlichen Werke" die zahlreichen einschlägigen Texte zu sammeln, sie nach den verschiedenen Phasen der Auseinandersetzung chronologisch und sachlich zu ordnen und durch den biografischen Kontext zu erhellen. Mit diesem Buch in der Hand möchte ich jetzt einen Appell an den Papst wiederholen, den ich während der jahrzehntelangen theologischen und kirchenpolitischen Auseinandersetzung mehrfach vergebens vorgetragen habe. Inständig bitte ich Papst Franziskus, der mir stets brüderlich geantwortet hat: "Empfangen Sie diese umfangreiche Dokumentation und lassen Sie in unserer Kirche eine freie, unvoreingenommene und ergebnisoffene Diskussion all der unbewältigten und verdrängten Fragen zu, die mit dem Unfehlbarkeitsdogma zusammenhängen."

Und weiter heißt es in dem Brief: "So könnte das problematische vatikanische Erbe der vergangenen 150 Jahre ehrlich aufgearbeitet und im Sinne der Heiligen Schrift und der ökumenischen Tradition bereinigt werden. Es geht nicht um einen trivialen Relativismus, der die ethischen Grundlagen von Kirche und Gesellschaft untergräbt. Aber auch nicht um einen unbarmherzigen, geisttötenden Dogmatismus, der auf den Buchstaben schwört, der die gründliche Erneuerung von Leben und Lehre der Kirche verhindert und ernsthafte Fortschritte der Ökumene blockiert. Schon gar nicht geht es mir darum, persönlich recht zu bekommen. Das Wohl der Kirche und der Ökumene steht auf dem Spiel.

Ich bin mir sehr wohl bewusst, dass diese meine Bitte Ihnen, der Sie, wie dies ein guter Kenner des Vatikans beschreibt, ,unter Wölfen' leben, möglicherweise nicht gelegen kommt. Aber mutig haben Sie, im vergangenen Jahr konfrontiert mit kurialen Krankheiten und sogar Skandalen, in Ihrer Weihnachtsansprache vom 21. Dezember 2015 an die römische Kurie Ihren Reformwillen bestätigt: ,Ich halte es für meine Pflicht zu bekräftigen, dass dies ein Anlass zu aufrichtigen Überlegungen und entscheidenden Maßnahmen war und weiter sein wird. Die Reform wird mit Entschlossenheit, klarem Verstand und Tatkraft fortgeführt werden, denn Ecclesia semper reformanda.'

Ich möchte die Erwartungen vieler in unserer Kirche nicht unrealistisch hochschrauben; die Unfehlbarkeitsfrage lässt sich in der katholischen Kirche nicht über Nacht lösen. Doch Sie sind ja nun erfreulicherweise fast zehn Jahre jünger als ich und werden mich hoffentlich überleben. Und Sie werden es sicher verstehen, dass ich als Theologe am Ende meiner Tage, getragen von tiefer Sympathie für Sie und Ihr pastorales Wirken, meine Bitte für eine freie ernsthafte Unfehlbarkeitsdiskussion noch rechtzeitig vortragen wollte, ,non in destructionem, sed in aedificationem ecclesiae', ,nicht zur Zerstörung, sondern zur Auferbauung der Kirche'. Für mich persönlich wäre dies die Erfüllung einer nie aufgegebenen Hoffnung."

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