Außenansicht:Der Anfang der Geschichte

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Joschka Fischer, 69, war von 1998 bis 2005 Bundesaußenminister und Vizekanzler. Copyright: Project Syndicate, 2017. (Foto: Adam Warzawa/dpa)

Mit dem Fall der Mauer begann das pazifische Zeitalter. Europa wird darin keine Rolle spielen, wenn es sich jetzt nicht einigt.

Von Joschka Fischer

Europa war über viele Hundert Jahre hinweg der Kontinent der Kriege, die Heimat des Mars, um einen Vergleich von Robert Kagan zu paraphrasieren, und alles andere als der Kontinent des Friedens, die Heimat der Venus.

Dazu wurde es erst, als es am Ende des Zweiten schrecklichen Weltkriegs nahezu völlig seine Souveränität an die beiden neuen globalen Supermächte USA und Sowjetunion verloren hatte und auch jener dritte Weltkrieg auf seinem Boden, der Gott sei Dank ein "kalter" geblieben war, zu Ende ging und die Teilung des Kontinents zwischen den beiden Supermächten überwunden wurde.

An die Stelle der alten europäischen Staatenordnung, die in zwei Weltkriegen und einem Kalten Krieg zugrunde gegangen war, trat das "Reich der Venus" in Gestalt der EU, das immerwährenden Frieden im Innern wie nach außen, wirtschaftliche Prosperität und die Herrschaft von Demokratie und Recht verhieß. Die Europäer schienen die großen Gewinner vom Ende der "Geschichte" und dem globalen Sieg von liberaler Demokratie und Marktwirtschaft zu sein.

Nur wenige Jahre später, im annus horribilis 2016 klingt das alles sehr naiv und weit, weit weg. Statt eines "ewigen Friedens" erleben die Europäer einen dramatischen Ordnungsverlust, verbunden mit einem Einbruch der Gewalt in ihren Alltag: Brexit, das Terrorattentat von Nizza und der Militärputsch in der Türkei mit der sich daran anschließenden drohenden Abschaffung von Demokratie und Rechtsstaat unter Recep Tayyip Erdoğan und generell die Tendenz, dass sich die Türkei unter ihrem Präsidenten von einem verlässlichen Partner des Westens und Europas in einen Ort der Instabilität und eine "loose cannon" zwischen Europa und dem Nahen Osten, zwischen Russland und dem Westen verwandelt.

Hinzu kommen die nicht wirklich gelöste europäische Flüchtlingskrise, das Drama des Syrienkriegs, ein Naher Osten als regionaler Nachbar, gefangen zwischen Krieg, Bürgerkrieg, Terrorismus, Diktaturen und Staatszerfall, der mehr und mehr droht, seine tiefen Konflikte nach Europa zu exportieren, der anhaltende Krieg im europäischen Osten, in der Ukraine, und die Bedrohung durch russische Großmachtpolitik und dazu ein sich mehr und mehr auf sich selbst zurückziehendes Amerika, das seiner Rolle als Sicherheitsgarant und globale Ordnungsmacht müde geworden ist. All diese Faktoren und noch einige mehr tragen zu dem realen oder auch nur gefühlten Ordnungsverlust bei.

Die zentrale Achse der Weltpolitik verschiebt sich vom Atlantik in den Pazifik

All diese Gefahren und Risiken sprächen eigentlich dafür, jetzt energische Schritte zur Stärkung der EU zu unternehmen, um so die absehbaren Risiken der Gegenwart und der nächsten Zukunft verringern zu können. Stattdessen aber glaubt eine wachsende Zahl von Bürgern in fast allen Mitgliedstaaten der EU, dass die Lösung in der Rückkehr zum Nationalstaat des 19. und frühen 20. Jahrhunderts läge, also darin, sich vom Rest der Welt abzuschotten und auf sich selbst zu beschränken. In der harten Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts läuft eine solche Politik aber auf nichts anderes hinaus, als den Kopf in den Sand zu stecken und darauf zu hoffen, dass die Gefahren vorübergehen mögen und es einen schon nicht treffen wird.

Europa hatte nach 1989 wohl gar zu gerne die These vom Sieg der liberalen Ordnung und vom Ende der Geschichte geglaubt und ist damit einer Illusion hinterhergelaufen. Auch innenpolitisch ist für die Europäer die Geschichte nicht zu Ende gegangen, sondern droht auch da mit Macht in Gestalt von Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit bis hin zum offenen Rassismus wiederzukehren.

Schlimmer noch, im Abstand von 26 Jahren drängt sich einem der Eindruck auf, dass 1989/90 mit dem Ende des Kalten Krieges und dem Untergang der Sowjetunion nicht die liberale, westliche Weltordnung gesiegt hatte. Vielmehr scheint das Gegenteil wahr zu sein: Mit dem Ende der Konfrontation der Blöcke scheint auch das Ende des Westens eingeleitet worden zu sein. Der Wegfall des kommunistischen Feindes hat auch ganz offensichtlich die Akzeptanz des Westens erschüttert, gemeinsam mit der Illusion vom ewigen Frieden, der da angeblich angebrochen wäre.

Wir wissen heute, dass die Zeitenwende von 1989/90 zugleich das Ende jener Weltordnung eingeleitet hat, die aus den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts hervorgegangen ist - angefangen mit der Gründung von Institutionen wie den Vereinten Nationen, IWF, Weltbank und, auf europäischer Ebene, auch der EU - und die vor allem von den USA gestaltet wurde (mit Ausnahme der EU) und auf westlicher Dominanz gründete. Damit ist es vorbei, unwiderruflich!

Was wir aus heutiger Sicht klarer sehen können, ist, dass damals eine lange Phase eines historischen Übergangs angebrochen ist, weg von der bipolaren Welt der Nachkriegszeit nach den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts hinein in eine globalisierte Welt des 21. Jahrhunderts, deren Konturen mit neuen Weltmächten und Akteuren sich bereits heute absehen lassen, deren Details aber noch nicht wirklich fassbar sind.

Die zentrale Achse von Weltpolitik und Weltwirtschaft verschiebt sich vom Atlantik in den Pazifik, also weg von Europa. Welche Macht oder Mächte wird (oder werden) diese neue Weltordnung gestalten? Wie friedlich wird es dabei zugehen? Welche Institutionen wird sie hervorbringen? Wird der Westen in diesem Prozess der Neugestaltung überleben? Und was wird aus dem alten Europa werden? Was aus dem Transatlantismus im "pazifischen Zeitalter"?

Für das alte Europa droht sich ganz aktuell das historische Fenster zu seiner Einheit zu schließen. Denn dieses Fenster war ganz offensichtlich Teil der liberalen westlichen Nachkriegsordnung und des Kalten Krieges. Damit aber droht Europa ein veritables Desaster, wenn es diese Gelegenheit zur Einheit jetzt verstreichen lässt.

Wir haben überall in Europa Politiker, die in den Pragmatismus der kleinen Schritte oder aber in die Vergangenheit des europäischen Nationalismus verliebt sind. Was es aber braucht ist politische Führung, die entlang der neuen langen Linien zu denken und zu handeln in der Lage ist, andernfalls wird es für Europa ein bitteres Erwachen geben.

© SZ vom 02.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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