Außenansicht:Chinas Hebel

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Thomas Paulsen, 48, verantwortet im Vorstand der Hamburger Körber-Stiftung den Bereich Internationale Politik. (Foto: Claudia Hoehne; oh)

Der Besuch von Präsident Xi Jinping in London lehrt vor allem eines: Europa darf sich nicht von Peking spalten lassen.

Von Thomas Paulsen

Ich habe nicht die Hälfte von dem erzählt, was ich gesehen habe, weil keiner mir geglaubt hätte", schrieb Marco Polo im Jahre 1324 über seine Erlebnisse im Fernen Osten. 700 Jahre später ist in China und Europa das Wissen übereinander sprunghaft angestiegen. Die wirtschaftlichen Beziehungen sind seit der Öffnung Chinas durch Deng Xiaoping förmlich explodiert. Europa und China sind füreinander unverzichtbare Absatzmärkte und Investitionsstandorte. Bei der Regulierung der internationalen Finanzmärkte, in Bildung, Kultur oder Umweltfragen ist bereits ein Beziehungsgeflecht entstanden.

Auf politischer Ebene bleibt die Zusammenarbeit allerdings blutleer. Darüber können die unzähligen, mit Kooperationsrhetorik gespickten Erklärungen nicht hinwegtäuschen. Die Gründe liegen auf der Hand: Erstens sind China und Europa geografisch so weit voneinander entfernt, dass die Probleme in ihrer jeweiligen Nachbarschaft für den anderen nur begrenzt wichtig sind. Das gilt für den Ukrainekonflikt und die Flüchtlingskrise genauso wie für die Auseinandersetzung um territoriale Ansprüche im Ost- oder Südchinesischen Meer.

Zweitens stehen China und Europa nach wie vor für unterschiedliche, teils diametral entgegengesetzte Werte in Politik und Gesellschaft. Drittens schließlich gibt es auf europäischer Seite immer noch eine gehörige Portion Misstrauen, was die langfristigen Absichten Chinas angeht. Es ist für viele Europäer schwer vorstellbar, dass China seine Rolle als neue Weltmacht am Ende nicht dazu nutzen wird, seine nationalen Interessen mit allen Mitteln zu vertreten, und dass Chinas Aufstieg in der internationalen Politik wirklich friedlich verlaufen wird. Dieses Misstrauen schlägt Präsident Xi Jinping gerade in Großbritannien entgegen. Ist die Hoffnung auf mehr politische Zusammenarbeit zwischen China und Europa also vergebens?

Chinesische Regierungsvertreter reisen heute mit einer Idee im Gepäck nach Europa, die Vertrauen stiften soll. Eine "neue Seidenstraße" soll den politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Austausch in Eurasien beflügeln. Es geht um milliardenschwere Investitionen in Infrastruktur, den Aufbau von Transportkorridoren und den Abbau von Handelshemmnissen. Am Ende, so die Vision, würden mit der neuen Seidenstraße in einer "multipolaren" Weltordnung Europa, Russland und China näher zusammenrücken, zum Nutzen aller.

Der Teufel steckt aber im Detail. Das ökonomische Potenzial einer kontinentalen Seidenstraße ist vergleichsweise gering. Die großen Güterströme werden auch in Zukunft zu Wasser, und nicht zu Land abgewickelt. Vor allem müssen die Seidenstraße-Protagonisten eine Antwort auf das Problem der asymmetrischen Interdependenz geben. China hat mittlerweile eine solche Stärke erreicht, dass in den meisten bilateralen Beziehungen eine einseitige Abhängigkeit entsteht. Während der kleinere Partner fast schon auf Gedeih und Verderb auf gute wirtschaftliche Beziehungen mit dem Riesen China angewiesen ist, kann sich Peking eine Verschlechterung der Beziehung durchaus leisten.

Peking verfügt über strategische Geduld im Übermaß, in der EU herrscht daran Mangel

Am Ende geht es um den Aufbau von Vertrauen, dass Peking diese einseitige wirtschaftliche Abhängigkeit nicht ausnutzen wird, um geopolitische Ziele zu verfolgen. Und es geht darum, dass bei politischen Konflikten nicht das Recht des Stärkeren gilt, sondern internationale Streitbeilegungsmechanismen akzeptiert werden. In beiden Fällen geben aktuelle Entwicklungen nicht viel Anlass zu Optimismus.

Im Südchinesischen Meer verhält sich China eher wie eine klassische Großmacht. Statt die gegensätzlichen Territorialansprüche beispielsweise auf Grundlage der internationalen Seerechtskonvention durch den Internationalen Seegerichtshof klären zu lassen, setzt China auf bilaterale Verhandlungen. Auch in den Auseinandersetzungen mit Japan um die Senkaku-/Diaoyu-Inseln wurde in China schon mit der Verschlechterung der Handelsbeziehungen gedroht. So kann es nicht verwundern, dass immer noch eine Portion Misstrauen herrscht, welche Ziele China langfristig in der Weltpolitik hat, und auf welche Weise es diese Ziele verfolgen wird.

Der Druck auf Europa und China, auch politisch stärker zusammenzuarbeiten, wird trotz dieser Einschränkungen wachsen. Die großen Probleme dieser Zeit - die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, Ressourcenknappheit oder die Regulierung der Finanzmärkte - lassen sich nicht ohne Europa und China lösen. Aber auch die Seidenstraßeninitiative zwingt zur Zusammenarbeit, weil nicht nur Menschen und Waren, sondern auch Risiken auf den neuen Transportkorridoren schneller reisen.

Zwei Faktoren könnten die Zusammenarbeit begünstigen: Zum einen ist es von Vorteil, dass Europa und China keine geopolitischen Konkurrenten sind. So lassen sich vergleichbare Interessen leichter gemeinsam verfolgen. Zum anderen glauben weder Europa noch China an schnelle Lösungen in der internationalen Politik. Gerne ist deshalb die Rede von der strategischen Geduld. Allein: China verfügt davon im Übermaß, in Europa aber herrscht Mangel daran. Zudem schwächt sich Europa selbst, weil es gegenüber China nicht mit einer Stimme spricht.

Die Seidenstraßen-Initiative macht eine gemeinsame Chinapolitik dringlicher denn je. Ein Nebeneinander, in dem China seine Gunst nach Gusto verteilt und die Europäer auseinanderdividiert, kann sich Europa nicht leisten.

Allerdings liegt eine gemeinsame Chinapolitik aller 28 EU-Staaten in weiter Ferne: Europas Außenpolitik ist heftigen Fliehkräften ausgesetzt, die gerade durch die Flüchtlingskrise weiter zunehmen. Die schleichende Renationalisierung der europäischen Außenpolitik lässt sich auch nicht kurzfristig zurückdrehen. Aber mindestens "die großen Drei" - Deutschland, Frankreich und Großbritannien - sollten ähnlich wie bei den Atom-Verhandlungen mit Iran endlich beginnen, ihre Politik miteinander abzustimmen und nicht als handelspolitische Konkurrenten aufzutreten. Auch die Ukrainekrise hat gezeigt, dass Europa unter immensem Druck Geschlossenheit zeigen kann. Nur in der Chinapolitik war den Europäern fast immer das eigene Hemd näher als der Rock.

Der Weg zu einer gemeinsamen Chinapolitik ist mühevoll, weil er von allen Beteiligten die Bereitschaft erfordert, einen Ausgleich zwischen nationalem und europäischem Interesse zu finden. Konkret heißt das: Im Zweifelsfall muss jede Nation auf einen wirtschaftlichen Vorteil auch einmal verzichten, um langfristig gemeinsam mehr zu erreichen.

© SZ vom 21.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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