Ausschreitungen in Großbritannien:Wutausbruch der Wohlstandskinder

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Die Gerichte tagen rund um die Uhr, vor den Gebäuden stehen die Streifenwagen Schlange: Londons Randalierer, die der britische Premier David Cameron als Vertreter einer kranken Gesellschaft brandmarkte, sollen schnell bestraft werden. Auf der Anklagebank sitzen aber nicht nur Vertreter der Unterschicht, sondern auch Studenten, Beamte - und eine Millionärstochter.

Kathrin Haimerl

Sechs Monate Haft für drei geklaute Wasserflaschen im Wert von umgerechnet vier Euro: Als das Amtsgericht in Camberwell Green im Süden Londons das Urteil verlas, ging ein Raunen durch die Reihen der Zuschauer. Null Toleranz den Randalierern - diese Devise hat Großbritanniens Premierminister David Cameron im Kampf gegen die Krawallmacher ausgegeben und dieser Vorgabe folgen nun auch die britischen Gerichte.

Zerbrochenes Fenster im Londoner Stadtteil Hackney, wo die Krawalle ihren Ausgang nahmen: Seit drei Tagen müssen sich Beschuldigte vor den britischen Amtsrichtern verantworten. (Foto: Getty Images)

Die Bilder von den Randalen in London und anderen Städten zeigen Jugendliche in Jogginganzügen, die neben brennenden Autos posieren, junge Männer, die durch eingeschlagene Fensterscheiben in Supermärkte und Elektroläden einsteigen, vermummte Kapuzenjackenträger, die Fotografen ihre Mittelfinger entgegen recken: Der Mob, der in den Straßen Großbritanniens wütet, das sind die Jugendlichen aus der Unterschicht, die Verlierer, die durch asoziales Verhalten auffallen, so der Tenor in allen britischen Medien.

Umso überraschter zeigen sich nun die Gerichtsreporter, die von den Fließbandprozessen gegen die Randalierer berichten. Denn unter die üblichen Verdächtigen mischen sich Fälle, die so gar nicht in das stereotype Bild passen. Die britischen Medien veröffentlichen inzwischen regelrechte Listen von "Mittelklasse-Randalierern".

Auch in dem Fall des Wasserflaschen-Diebes von Camberwell Green stand kein verarmtes Arbeiterkind vor dem Amtsrichter. Vielmehr traf es einen Studenten der Elektrotechnik, der in den frühen Morgenstunden am Montag auf dem Heimweg war, als er sah, wie ein Geschäft geplündert wurde.

Nach Angaben seines Anwalts habe er die Gelegenheit genutzt und sei in den Laden gegangen, um sich ein Wasser zu holen. In diesem Moment sei er erwischt worden, berichtet der Guardian. Er schäme sich für seine Tat, ließ der junge Mann über seinen Verteidiger erklären.

Doch der Richter kannte keine Gnade: "Dieser Angeklagte trug durch seine Handlung zu den kriminellen Aktivitäten und einer Atmosphäre von schierer Gesetzeslosigkeit bei", so die Urteilsbegründung.

Zu den Verdächtigen gehören:

[] Eine 19-jährige Millionärstochter. Nach einem Bericht des Daily Telegraph erwischte die Polizei die Studentin am Steuer eines Autos, in dem die Beamten Elektrogeräte im Wert von umgerechnet 5700 Euro fanden, die aus einer Plünderungsaktion stammen sollen. Die junge Frau, die an der Universität Exeter studiert, ist die Tochter eines Unternehmers, der in den Vorständen mehrerer Firmen sitzt. Sie wurde schließlich auf Kaution entlassen - allerdings mit Auflagen: Sie muss eine elektronische Fußfessel tragen und darf London nicht betreten.

[] Ein Elfjähriger. Der jüngste Tatverdächtige, der bislang vor Gericht erscheinen musste, wurde am Montag mit einer Gruppe von Kindern verhaftet. Sie sollen durch ein zerbrochenes Fenster einen Mülleimer geklaut haben. Beim Anblick des Angeklagten sei sogar der Richter unsicher geworden: "Ich kann doch keinen festnehmen lassen, der unter zwölf ist", soll er dem Gerichtsschreiber zugeraunt haben.

[] Eine Sozialarbeiterin. Die 24-Jährige hat gerade erst ihr Studium beendet. Vor Gericht gestand sie, einen Fernseher im Wert von umgerechnet 340 Euro gestohlen zu haben.

[] Ein Jura-Student. Der 21-jährige soll zu einer Gruppe gehört haben, die mehrere Cafés und Restaurants in einem Londoner Stadtteil stürmte.

[] Außerdem auf der Anklagebank: ein Immobilienmakler, ein Opern-Intendant und ein Postbeamter.

Premier Cameron hat die Randale als Auswüchse einer "kranken Gesellschaft" gebrandmarkt: Seit Ausbruch der Unruhen am vergangenen Wochenende sind Hunderte Geschäfte geplündert worden. Gebäude gingen in Flammen auf und mehrere Menschen kamen ums Leben. In Birmingham wurden drei junge Männer von einem Auto überfahren. Ein 68-Jähriger, der nach einem Zusammenstoß mit Plünderern in einer Londoner Straße gefunden wurde, erlag am Donnerstagabend seinen Verletzungen. In beiden Fällen hat die Polizei Ermittlungen wegen Mordes aufgenommen.

Experten wie der Konfliktforscher Wilhelm Heitmeyer führen die Krawalle auf die "knallharte Klassengesellschaft" in Großbritannien zurück, auf die begrenzten Integrationschancen junger Menschen mit geringen Qualifikationen. Armut, Elend und Perspektivlosigkeit würden die Randalierer antreiben.

Nach Angaben der Londoner Polizei sind inzwischen 460 Menschen in Zusammenhang mit den Randalen verurteilt worden. Allein in London habe es 1051 Festnahmen gegeben, landesweit seien es mehr als 1500. Den Polizeiangaben zufolge handelt es sich bei etwa der Hälfte der Beschuldigten um Jugendliche unter 18 Jahren.

Den Verdächtigen soll nun im Schnell-Verfahren der Prozess gemacht werden: Seit drei Tagen verhandeln die britischen Amtsgerichte in Marathonsitzungen, zum Teil tagen sie ununterbrochen. Vor den Gerichten stehen die Streifenwagen mit Verdächtigen Schlange, berichten mehrere Zeitungen.

Der 11-jährige Junge muss keine Strafe absitzen, doch in den meisten Fällen halten sich die Gerichte strikt an Camerons Null-Toleranz-Credo. Zwar steht britischen Amtsrichtern ein Strafmaß von sechs Monaten Haft oder 5000 Pfund Geldstrafe zur Verfügung. Doch bei den mutmaßlichen Randalierer stufen sie dies häufig als zu gering ein - und verweisen die Fälle weiter an ein Geschworenengericht.

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