Ausgehandelte Urteile:Justitia als Dealerin

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Absprachen im Strafprozess, Zerrbilder der Wahrheit: Vor Gerichten wird inzwischen mit Strafen gehandelt, die Wahrheit interessiert nur am Rande. Zwischen Richter, Staatsanwalt und Verteidigung entsteht ein gedealter Prozess. Doch darf ein Richter zum juristischen Makler werden? Damit muss sich nun das Bundesverfassungsgericht beschäftigen.

Heribert Prantl

Die dealende Justiz interessiert sich weniger für penible Aufklärung und Beweisaufnahme denn für ein schnelles, effektives und kostengünstiges Verfahren. (Foto: dpa/Peter Steffen)

Es gibt wunderbare Bilder, auf denen sie in allen erdenklichen Gestalten und Posen zu sehen ist: nackt und bekleidet, gegürtet und gerüstet, mal mit Waage und Schwert, mal mit Waage und Palmzweig. Die Justitia, Personifizierung der Gerechtigkeit, gehört zu den großen Symbolen der abendländischen Geschichte. Lucas Cranach der Ältere hat sie gemalt und Giotto, bei Raffael schwebt sie engelsgleich auf Wolken. Im Holzschnitt von Sebastian Brant aus dem "Narrenschiff" legt ein Schalk ihr die Augenbinde um. Das alles ist Geschichte, Kunstgeschichte, Rechtsgeschichte, Strafrechtsgeschichte.

Deutsche Gegenwart ist der Paragraf 257c der Strafprozessordnung. Er erschafft eine völlig neue Gerechtigkeit, eine, die mit der alten Justitia fast nichts mehr zu tun hat: Die neue Justitia ist eine Figur, die mit Strafen handelt und die sich dabei für die Wahrheit nicht übermäßig interessiert. Der moderne Strafprozess ist der zwischen Richter, Staatsanwalt und Verteidiger ausgehandelte, also der gedealte Prozess. Die Justitia als Dealerin: Vor dem Bundesverfassungsgericht wird nun verhandelt, ob dies wirklich das neue, das moderne Bild der Justitia werden soll.

Die dealende Justiz interessiert sich weniger für penible Aufklärung und Beweisaufnahme denn für ein schnelles, effektives und kostengünstiges Verfahren. In großen Wirtschaftsprozessen hat die Dealerei begonnen, dann hat diese Ökonomisierung des Rechts umfassend Einzug in den Strafprozessen gehalten. Es wird gefeilscht und gepokert, gehandelt und gezahlt - man hat das etwa im Mannesmann-Ackermann-Prozess oder im Verfahren gegen Peter Hartz erlebt.

Handeln ist zum Wesenskern des Strafrechts geworden

Aus den Strafrichtern sind juristische Makler geworden, aus dem Strafgesetzbuch wurde ein Handelsgesetzbuch. Seit dem Gesetz "zur Regelung von Absprachen im Strafprozess" aus dem Jahr 2009 darf in jedem Strafprozess mit gesetzlicher Erlaubnis gedealt werden. Seitdem ist das, was die Kritiker "Handel mit der Gerechtigkeit" nennen, ganz offiziell Teil und Wesenskern des deutschen Strafrechts.

Deal heißt: Es gibt Absprachen zwischen Verteidigung, Staatsanwaltschaft und Gericht, in denen Geständnisse vereinbart und bestimmte Strafen zugesichert werden. Do ut des - ich gebe dir ein Geständnis, du gibst mir dafür die milde Strafe, die wir miteinander vereinbart haben.

Die ganze Sache wird üblicherweise nach Aktenlage, lang vor der mündlichen Verhandlung, über den Daumen gepeilt und informell zwischen Richter, Staatsanwalt und Verteidiger, aber ohne Schöffen, ohne Nebenkläger (also ohne Opfer) und ohne Öffentlichkeit, ausgehandelt - und dann später in der Hauptverhandlung als deren angebliches Ergebnis in Spurenelementen protokolliert, ratifiziert und vollzogen.

Dreh- und Angelpunkt des Deals ist ein Geständnis - das meist ein sehr dünnes und schmales ist, die Praxis nennt es "schlankes Geständnis". Der Angeklagte räumt einen Teil der Vorwürfe ein und erhält dafür, wie vorab besprochen, eine verhältnismäßig geringe, auch vorab festgelegte Strafe. Der überlasteten Praxis genügt fast jedes, auch ein ganz kleines Geständnis.

Manches Geständnis hat mit Wahrheit nichts mehr zu tun

An dessen Formulierung wird herumgebastelt wie an einem Gedicht. Überwiegend enthalten diese Geständnisse Beschönigungen, manche liefern gar ein Zerrbild der Wahrheit, das vom eiligen Richter augenzwinkernd akzeptiert wird - so sieht es jedenfalls die Fachliteratur. Manche Geständnisse haben mit der Wahrheit nichts mehr zu tun, manche sind beinah erzwungen: Es handelt sich um taktische Erklärungen aufgrund der abspracheüblichen Drohungen und Versprechungen. Dementsprechend sagen viele Verurteilte, dass sie nicht "richtig" verurteilt, sondern Opfer eines Deals geworden seien.

Die neuen Vorschriften über den Deal lassen eine zentrale Vorschrift des bisherigen klassischen Strafprozesses ausdrücklich unberührt: Auch bei einem Deal habe "das Gericht zur Erforschung der Wahrheit die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken, die für die Entscheidung von Bedeutung sind". So steht es im Gesetz. Das aber ist (nicht nur nach Ansicht der Kritiker des Deals) eine Lüge.

Die gerichtliche Aufklärungspflicht und die Dealerei sind nicht einfach miteinander vereinbar. Peter Rieß, der im Bundesjustizministerium viele Jahre die graue Eminenz für die Rechtspflege war, wirbt freilich dafür, dass der klassische alte und der neue gedealte Strafprozess noch zusammenwachsen müssten. Kann, darf aber zusammenwachsen, was nicht zusammengehört?, fragte der Mainzer Ordinarius Michael Hettinger jüngst in der Juristenzeitung.

Wie lässt es sich vermeiden, dass ein Angeklagter zum Deal genötigt wird? Dass er womöglich gar etwas gesteht, wo es gar nichts zu gestehen gibt - nur um eine ihm ansonsten vom Gericht angedrohte schwere Strafe zu vermeiden? Darf es sein, dass Aufklärungsdefizite einfach mit einem Deal bemäntelt werden?

Mit solchen und noch viel mehr Fragen hat sich am Mittwoch das Bundesverfassungsgericht zu beschäftigen. Der Deal liegt zur umfassenden Begutachtung auf dem Karlsruher Tisch - Generalüberprüfung! Seit einem Vierteljahrhundert ist dieser Deal nun tägliches Geschäft bei den Strafgerichten. Schon 1990 konstatierte die Strafverteidiger-Vereinigung: "Die einen sagen, er ist verboten.

Die anderen sagen: Es gibt ihn nicht. Die Dritten sagen: Es gibt ihn nicht, weil er verboten ist. Aber alle wissen: Er ist unser tägliches Geschäft." Dieses Geschäft wurde dann im Jahr 2005 in einem Grundsatzurteil des Großen Senats des Bundesgerichtshofs grundsätzlich akzeptiert.

Die obersten Strafrichter verlangten damals aber eine ausdrückliche gesetzliche Regelung des Deals - wohl um ihn einzuhegen und zu domestizieren. Unter anderem forderte der Bundesgerichtshof damals, dass das gedealte Geständnis kein "bloßes inhaltliches Formalgeständnis" sein dürfe.

Keine Rechtsprechung sondern Machtausübung

Ob das Deal-Gesetz aus dem Jahr 2009 diese Forderung einlöst? Die Bundesverfassungsrichter werden skeptisch sein - zumal eine Umfrage auf ihrem Tisch liegt, wonach sich viele Strafrichter nicht einmal an die ohnehin sehr weiten gesetzlichen Vorgaben halten. Verboten ist im Gesetz von 2009 zum Beispiel ein Deal über den Schuldspruch (also über die Straftatbestände, die zur Anwendung kommen). Verboten ist auch, dass der Verzicht auf Rechtsmittel zum Gegenstand des Deals gemacht wird. In der Praxis ist das aber gang und gäbe, ja Kernbestandteil des Deals. Und so kommen immer weniger Urteile zur Überprüfung an die obersten Instanzen.

Die schärfsten Kritiker des Deals sind die Strafrechtsprofessoren: Es handele sich, so sagt etwa der Münchner Bernd Schünemann, beim Deal nicht mehr um Rechtsprechung, sondern um Machtausübung; um den Untergang der deutschen Rechtskultur. Und die Amts- und die Landrichter, die Lastesel der Justiz also, verteidigen sich damit, dass ohne Deal die ganze Justiz zusammenbrechen würde. Der Deal sei ein Akt der Notwehr der überlasteten Justiz.

Die Frage lautet dann: Darf Notwehr zum juristischen Alltagsprinzip werden? Darf aus Notwehr der aufgeklärte, der aufklärende Strafprozess, der vor zweihundert Jahren den Inquisitionsprozess abgelöst hat, nun einfach so beendet werden? Darf er ersetzt werden durch einen Prozess, in dessen Mittelpunkt nicht mehr die penible Beweisaufnahme steht, sondern die Zustimmung des Beschuldigen zur Strafe und die Verhandlerei, die dieser Zustimmung vorausgeht?

Ohne Deals gibt es Mehrkosten

Nun ist der Strafprozess nicht der Ort überirdischer Gerechtigkeit - er war es nie, er kann es auch nicht sein. Vieles dort ist Zufall; und so mancher Beschuldigte kommt besser weg, nur weil er sich den besseren Anwalt leisten kann. Aber: Der Deal könnte dazu führen, dass der Strafprozess künftig mehr und mehr zu einem Ort unterirdischer Gerechtigkeit wird. Wie das vermieden werden kann, das muss Karlsruhe nun klären.

Muss die Dealerei völlig beendet werden? Kann sie mit detaillierten Vorschriften und Vorgaben besser geregelt werden als bisher? Es geht auch um die Frage, wie viel ein rechtsstaatlicher Strafprozess der Politik wert ist. Der Mainzer Strafrechtsprofessor Michael Hettinger gab darauf die verzweifelte Antwort: "Derzeit nichts, nur hohle Worte." Eine Justiz, die penibel ist und weitgehend ohne Deal auskommt, würde jedenfalls sehr viel mehr kosten als die heutige.

Wenn es um die Dealerei in der Justiz von heute geht, mag man sich an den Ablasshandel in der Kirche von vorgestern erinnern. Die Gläubigen konnten sich vor fünfhundert Jahren ganz oder teilweise die Sündenvergebung erkaufen: "Wenn das Geld im Kasten klingt, die Seele in den Himmel springt" - das war der Spruch des Mönches Tetzel. An diesem Ablasssystem, das den Priester zum Händler machte und die ewige Seligkeit ökonomisierte, zerbrach damals der Glaube an die Kirche. Heute, das ist die Befürchtung der Deal-Kritiker, könnte der Glaube an das Recht an dessen Ökonomisierung zerbrechen.

Das Deal-Gesetz sollte, so hatte es die damalige Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD) versprochen, Rechtssicherheit bringen. Diese ist bisher nicht eingetreten.

© SZ vom 06.11.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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