Weihnachtsbräuche:Ein Häuflein Glück

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Was haben Angela Merkel, Barack Obama oder die Pokémons in katalanischen Weihnachtskrippen zu suchen? Und warum nehmen sie alle so eine seltsame Hockstellung ein? Über einen uralten und sehr eigenwilligen Brauch.

Von Thomas Urban, Barcelona

Papst Franziskus und der Heilige Georg, der Drachentöter, der hier Jordi heißt, sind mit heruntergelassener Hose in Hockstellung gegangen, und das Jesuskind schaut zu. Unter den entblößten Hinterteilen der Männer sind braune Häufchen auszumachen. Kein Zweifel, unter den Augen der Heiligen Familie haben der Heilige Vater und der Märtyrer ihr Geschäft gemacht. Nein, es handelt sich nicht um eine skandalöse Fotomontage einer antiklerikalen Satirezeitschrift. Es ist nur Advent im katholischen Katalonien.

Der Papst und der Heilige mit den nackten Hinterteilen sind Caganer. So nennt sich eigenwillige Krippenfiguren, die im Nordosten der iberischen Halbinsel zu Hause sind. Das Verb cagar ist gleichen Ursprungs wie das deutsche kacken. In jeder katalanischen Weihnachtskrippe findet sich mindestens ein Caganer, auch in den Kirchen. Korrekt ist allerdings, dass er sein Werk außerhalb des Blickfeldes der Heiligen Familie verrichtet, meist im Schatten des Stalles von Bethlehem. Das Jesuskind lächelt lieber die Hirten oder die Heiligen Drei Könige wonnig an.

Was nun diese Kacker in der Heiligen Nacht zu suchen haben, weiß in Katalonien jedes Kind: Sie bringen Glück. Warum sie als Glücksbringer gelten, ist für die Anthropologen eine ausgemachte Sache: Die meisten Böden in Katalonien sind karg, jede Art von Dünger war den Bauern willkommen. Philosophen sehen darin den Kreislauf der Natur vom Wachsen und Vergehen symbolisiert. Ursprünglich war der Caganer denn auch ein Pfeife rauchender katalanischer Bauer mit der traditionellen roten Mütze auf dem Kopf. Gelehrte Abhandlungen sind über den tieferen Sinn des Glückskackens entstanden: Das Vulgär-Groteske solle die sakrale Kraft der Geburt Christi umso stärker hervortreten lassen, der Mensch reinige sich. Der Caganer stehe für die Ausgegrenzten und Verlorenen, denen aber die Frohe Botschaft doch Hoffnung gibt. Übelmeinende aber reden von kollektiver verspäteter Analphase.

Den Brauch haben Fäkalisten schon für das 16. Jahrhundert belegt. Weit verbreitete sich das Caganertum im Zeitalter des Barocks, das ja auch viel Raum für Derbes bot. Den "Ur-Caganer" haben Historiker in der Darstellung eines iberischen Kriegers aus der späten Römerzeit ausgemacht, der sein Häuflein auf sein Schwert macht, offenkundig, so sehen es die Wissenschaftler, um dieses dann unterzupflügen, eine frühe Umsetzung des Mottos "Schwerter zu Pflugscharen".

Als die Stadt Barcelona eine Krippe ohne Caganer aufstellte, brach ein Shitstorm los

Je größer die Weihnachtskrippe, desto größer das Glück. Und katalanische Krippen können sehr groß sein, richtige Miniaturstädte. Wie auf einem Suchbild wird der Caganer dabei gern versteckt; es ist nicht nur für Kinder ein beliebtes Spiel, ihn in den kunstvollen orientalischen Stadtlandschaften zu finden. Wenn sich kein Caganer unter das bunte Volk von Bethlehem mit seinen Händlern, Marktfrauen, Hirten und auch römischen Soldaten gemischt hat, so ist das schlecht: Es bedeutet viel Ungemach für die kommenden zwölf Monate.

Als vor elf Jahren die Stadt Barcelona in der Krippe vor dem Rathaus auf den Caganer verzichtete, war die Empörung groß. Das Amt für Öffentliche Ordnung erklärte, man habe doch gerade erst den Bußgeldkatalog für das Verrichten der Notdurft in den Parkanlagen vorgestellt. "Der Caganer gibt ein schlechtes Beispiel!", teilte das Amt mit. Doch die Lokalpolitiker beugten sich dem öffentlichen Druck: Im folgenden Jahr hatte der Glückskacker seinen Posten hinter der Krippe wieder.

Zum Massenphänomen wurden die Caganer erst in den vergangenen beiden Jahrzehnten, seitdem die Katalanen sich nämlich immer mehr auf ihre nationalen Traditionen besinnen, um sich vom ungeliebten Madrid abzusetzen. Zu Caganerfiguren wurden nun auch die katalanischen Politiker und Prominente aus aller Welt. Im Örtchen Centelles 50 Kilometer nördlich von Barcelona lädt das Caganer-Museum zur Meditation angesichts von knapp anderthalbtausend Kackern und Kackerinnen ein. Letztere gab es früher nicht, aber auch hier weht der Wind der Emanzipation.

Kackende Kicker von Real Madrid - die gibt es nicht. Man wünscht ihnen schließlich Pech!

Marilyn Monroe und Angela Merkel mit prallen rosigen Hinterteilen. Der kackende Obama hält ein "Yes, we can!"-Plakat hoch. Die Kulturhistoriker haben hier eine "semantische Verschiebung" ausgemacht: Die dargestellten Figuren sollen nämlich auch verspottet werden, was - Gott bewahre! - natürlich weder für den Heiligen Vater noch den heiligen Jordi gelten kann. Auch Fußballstars kommen so zu ihrer Wurst, natürlich nur die einheimischen vom FC Barcelona, von denen sich einige lautstark für die staatliche Souveränität ihrer Heimatregion einsetzen. Die arroganten Kicker von Real Madrid haben keinen Platz, ihnen wünschen aufrechte Katalanen eine Pechsträhne nach der anderen.

So war es nur folgerichtig, dass vor 16 Jahren eine "Gesellschaft der Caganer-Freunde" gegründet wurde, sie gibt das Vereinsorgan Der Caganophile heraus. In der aktuellen Nummer 37 wird berichtet, dass nun auch das isländische Radio vom Caganismus berichtet hat. Ein weiterer Artikel lenkt den Blick ebenfalls nach Übersee: Da gibt es tatsächlich auch Caganer in Sizilien. Ferner sind die Texte von neuen Caganer-Liedern abgedruckt. Schließlich noch ein Foto des Riesencaganers in einem Einkaufszentrum in Barcelona, er ist fünf Meter hoch, sein Haufen dürfte einen Zentner wiegen. Doch Puristen sind empört, denn der Riese trägt nicht die katalanische Bauernmütze, sondern eine rote Weihnachtsmannmütze mit weißem Rand und weißer Bommel: "Eine unzulässige Vermischung von Traditionen!"

Überhaupt hat das Schlagwort Pauperisierung die Runde gemacht, "Verarmung", gemeint ist Banalisierung der Tradition. Denn was haben mit ihr Superman, Spiderman, die Schlümpfe, Pokémons und andere Comic-Figuren zu tun, die man in Hockstellung auf dem Platz vor der Kathedrale von Barcelona kaufen kann? Dort gibt es übrigens auch etwas für den ambitionierten Traditionalisten: einen Caganer aus Alabasterimitat; wenn man ein Teelicht vor ihn stellt und ein Stückchen Schokolade in seinen Rucksack legt, so kommt nach ein paar Minuten ein braunes Würstchen hinten raus. Das ganze für 36,30 Euro, Schokolade nicht inbegriffen.

Alles und jeder kann nun Caganer sein, schlimmer Werterelativismus macht sich breit. Nur vor einem machen die Figurenhersteller gottlob noch halt: vor der Heiligen Familie.

© SZ vom 23.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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