Villa Calé in Berlin:Nackte Brüste als Problem

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Der Haupteingang der Villa Calé in Zehlendorf. (Foto: Christian Gérôme)

Seit Mitte der Neunziger gehört die denkmalgeschützte Villa Calé in Berlin dem Emirat Katar - und verfällt seither. Genutzt haben die Eigentümer ihr Haus nie. Grund dafür: eine Steinfigur mit entblößtem Busen.

Von Verena Mayer und Nadia Pantel, Berlin

Der Stein des Anstoßes ist rund und wohlgeformt, wobei es eigentlich zwei Steine des Anstoßes sind, nämlich Brüste. Die gehören zur Steinfigur einer jungen Frau, die einen Arm zu einer Weltkugel ausstreckt, links und rechts von ihr sitzen Putten. Eine schöne Szene ist das, neoklassizistisch perfekt wie die gesamte Villa, in deren Giebel sich diese Figuren befinden. Die Sache ist nur, dass die Frau barbusig ist. Und damit hat offenbar der Eigentümer ein Problem, nämlich der Wüstenstaat Katar. Der nützt das Anwesen jedenfalls nicht und lässt es seit Jahren leerstehen. Und so verfällt im Berliner Westen eines der prachtvollsten alten Häuser, die denkmalgeschützte Villa Calé.

Berlin-Zehlendorf, eine typische Villengegend. Stille Straßen, viel Grün, etliche Botschaftsgebäude, viele höhergelegte Großwagen. An einer Ecke liegt die Villa Calé, weißgrau, kompakt und mit allem, was dazugehört, Freitreppen, Balkon, Giebeln, Steinfiguren. Geschützt, aber doch repräsentativ. 1904 hat der Verleger Franz Calé die Villa für sich erbauen lassen, dann ereilte sie das Schicksal vieler Berliner Jahrhundertwendebauten. Während des Krieges diente die Villa dem Militär, dann zogen die Amerikaner ein, die dort etwa einen Jugendclub betrieben. Mitte der Neunziger, als alle Welt Residenzen in Berlin haben wollte, kaufte das Emirat Katar die Liegenschaft, samt Garten, für zwei Millionen Mark. Die Villa sollte das Botschaftsgebäude werden. Architekten kamen, machten Pläne. Passiert ist nichts, eingezogen ist niemand. Und so bröckelt die Villa seit bald zwei Jahrzehnten vor sich hin und die wohlgeformten Steine des Anstoßes mit dazu.

Das Problem ist in der Hauptstadt seit Längerem bekannt, aber in letzter Zeit wurde das ganze Ausmaß des Verfalls sichtbar. Das Denkmalamt stellte eine Mängelliste zusammen, das Dach ist nicht Ordnung, Teile der Fassade fallen ab, im Garten liegt Gerümpel, die Mauer ist beschmiert mit Graffiti, die niemand entfernt. Und inzwischen beschäftigt die Villa auch das Berliner Abgeordnetenhaus. Die SPD-Abgeordnete Ina Czyborra stellte eine schriftliche Anfrage an den Berliner Senat: "Eine denkmalgeschützte Villa verfällt und Berlin ist machtlos?"

Nacktheit als "lokale Sitte"

Machtlos vielleicht nicht, aber die Sache ist ziemlich undurchsichtig. So undurchsichtig wie das ganze Anwesen. Vom Zaun aus sieht man gut zehn Meter Brennesselwiese, haushohe Bäume und die Schilder des Sicherheitsdienstes, die tägliche Überwachung versprechen. Durch die schmiedeeisernen Gitterstäbe lassen sich ein paar Figuren auf einem Fries an der Vorderfassade erkennen. Um den Stein des Anstoßes genauer zu sehen, bräuchte es ein Fernglas. Die Brüste drängen sich nicht auf, vermutlich fielen sie auch dem Käufer seinerzeit nicht sofort ins Auge. Und als jemand den entblößten Busen sah, war es zu spät. Verändern darf man daran nichts, das historische Gebäude steht unter Denkmalschutz.

Ganz allgemein hat Nacktheit in Berlin schon viele verstört. Berlin ist die Stadt der Freizügigkeit und eine der letzten Bastionen des Nacktbadens. Der amerikanische Schriftsteller Nathan Englander war bei einem seiner Berlin-Aufenthalte so baff, dass er im Frühjahr einen langen Artikel in der New York Times über die Nacktheit als "lokale Sitte" schrieb. Wie gern sich die Berliner entblößen, ob im Fitnesscenter-Pool, im Berliner Tiergarten, wo Englander zur Mittagszeit sich entblätternde Geschäftsmänner beobachtet haben will. Oder an jedem x-beliebigen Berliner See. "Sagen wir so", schrieb Englander, "da waren Schwärme von Leuten mit nichts an ihrem Körper, woran sie ihren Garderobenschlüssel hätten hinhängen können".

Dass aber auch die nackten Körper klassizistischer Frauenskulpturen dermaßen verstören können, ist selbst für Berliner Verhältnisse neu. Aber stimmt das überhaupt, dass die Brüste das Problem sind? Hat das Gebäude nicht vielleicht andere Mängel? Nein, das sei schon so, es liege an den "freizügigen Statuen", sagt der Immobilienunternehmer Christian Gérôme. Er ist spezialisiert auf Villen und versucht seit einiger Zeit, einen Käufer für die Villa Calé zu finden. Im Grundbuch seien keine Lasten angeführt, so Gérôme, auch liege kein Restitutionsfall vor, wie das bei solchen historischen Gebäuden vorkommen kann. 2,5 Millionen Euro sollen für das Gebäude erzielt werden, das man von Grund auf sanieren müsste. Die wenigen Interessenten, die es gegeben hatte, sind abgesprungen.

Anwohner, die sich aufregen

Klar ist inzwischen immerhin, dass das Land Katar für die Erhaltung der Villa zuständig und dabei an deutsches Recht gebunden ist. Eine Zeit lang stand im Raum, dass die Villa als geplantes Botschaftsgebäude exterritoriales Gebiet sein könnte. Das ist sie aber nicht, wie jetzt in der Antwort des Regierenden Bürgermeisters Klaus Wowereit auf die schriftliche Anfrage zum Zustand der Villa herauskam. Katar muss den Denkmalschutz einhalten, Ende vergangenen Jahres gab es bereits eine Besichtigung des Landesdenkmalamtes zusammen mit Vertretern von Katar. Aus Katar hat sich bis heute noch niemand geäußert. Immobilienunternehmer Gérôme vermutet, dass es in Katar erst der Zustimmung der Regierung brauche, um einen Fehlkauf wie diesen rückgängig zu machen und das Gebäude mit Verlust zu veräußern. Daran habe aber wohl niemand großes Interesse. Von deutscher Seite besteht ebenfalls kein Interesse daran, die Villa zu erwerben. Ein "Bundesbedarf an dieser Liegenschaft" sei derzeit "nicht gegeben", so Klaus Wowereit.

Und so wird der Zustand der Villa Calé weiterhin Berlin beschäftigen, besonders die Anwohner in Zehlendorf. Dort schließt der Nachbar von direkt gegenüber gerade die Autotür ab, als sein Blick auf die Villa fällt. Er rege sich täglich darüber auf, "dass man dem schönen Stuck beim Zerfallen zusehen" könne, sagt er. Die Villa Calé wird in dieser Gegend übrigens auch Engelsvilla genannt. Wegen der riesigen Engelsfigur auf der Kuppel. Sie sieht eigentlich sehr züchtig aus.

© SZ vom 11.09.2014/juld - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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