USA:Besinnungslos

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Tatort Studentenverbindung: Evelyn Piazza (im lila Pullover), die Mutter des toten Timothy, umarmt die Staatsanwältin, im Hintergrund trauert Vater Jim. (Foto: Joe Hermitt/AP)

Der US-Student Timothy Piazza wollte in eine Studentenverbindung aufgenommen werden. Er wurde mit viel Alkohol abgefüllt und starb. Jetzt müssen 18 junge Männer vor Gericht.

Von Jürgen Schmieder, Los Angeles

Es ist eine ziemlich verstörende Lektüre, die von der Bezirksstaatsanwaltschaft in Pennsylvania veröffentlicht worden ist, die 81 Seiten lesen sich wie das Drehbuch einer dramatischen Teenager-Tragödie. Es geht um ein Trinkgelage an der amerikanischen Universität Penn State und den verzweifelten Versuch des schüchternen Studenten Timothy Piazza, in die Bruderschaft Beta Theta Pi aufgenommen zu werden. Er wird abgefüllt und gehänselt, er fällt eine Treppe hinunter und verletzt sich schwer. Wer ihm helfen oder gar den Notdienst rufen will, der wird geschubst und beschimpft. Wenig später ist Piazza tot. 18 Studenten müssen sich nun vor Gericht verantworten, acht von ihnen wegen fahrlässiger Tötung.

Die Rituale sind oft barbarisch. Sie werden aber von vielen Amerikanern akzeptiert

Die Aufnahmerituale der amerikanischen Fraternities, der Bruderschaften, sind anarchisch und bisweilen auch barbarisch, sie werden dennoch von vielen Amerikanern akzeptiert - als harmloser Spaß und Vorbereitung auf ein Leben, das eben nicht immer nur aus Regenbögen und Einhörnern besteht. Die Verbindungen sind disziplinierte und verschwiegene Gemeinschaften, der Mythos, der sich um sie rankt, ist auch bei Arbeitgebern durchaus gefragt, vor allem die Tatsache, dass selbst bei Skandalen kaum etwas nach außen dringt.

Zahlreiche Vorfälle in den vergangenen Jahren aber verdeutlichen, dass manche Mitglieder nicht nur den verrückten Typen aus Filmen wie "Animal House", "Van Wilder" oder "Old School" ähneln, sondern auch Rassisten, Sexisten und Sich-zu-Tode-Trinker sind. In den letzten zehn Jahren hat es 60 Todesfälle gegeben, bei denen Fraternities eine Rolle gespielt haben. Der Tod von Timothy Piazza ist nun auch deshalb besonders relevant, weil die Behörden den Abend im Februar mit mehreren Videokameras im Haus, Textnachrichten zwischen den Mitgliedern und Einträgen auf sozialen Netzwerken ziemlich präzise rekonstruieren konnten.

Der 19 Jahre alte Piazza musste Unmengen an Alkohol in sich hineinschütten, an Trinkspielen teilnehmen und sich einige Demütigungen gefallen lassen. Um 22.45 Uhr war er schließlich sternhagelvoll, fiel eine Treppe hinunter und verletzte sich offensichtlich am Kopf. Der Obduktion zufolge lag sein Alkoholwert zu diesem Zeitpunkt bei etwa 3,6 Promille.

"Tim könnte noch am Leben sein, das hätte nicht passieren müssen", sagte sein Vater Jim Piazza am Montag. "Es geht nicht nur um das absichtliche Brechen von Gesetzen und die Missachtung moralischer Werte, sondern darum, aus purem Egoismus ein Menschenleben zu gefährden. Wir hoffen, dass diejenigen, die für Tims Tod verantwortlich sind, auch zur Verantwortung gezogen werden." Die Mitglieder der Bruderschaft, das geht aus der Anklageschrift hervor, wollten offensichtlich lieber ihren eigenen Hintern retten als das Leben von Piazza. Sie legten ihn auf eine Couch und schnallten ihm einen Rucksack mit Büchern um, damit er sich nicht bewegen und auch nicht an seinem eigenen Erbrochenen ersticken konnte.

"Ich bin sofort ausgeflippt, als ich Tim gesehen habe und wollte sofort Hilfe rufen", sagte Bruderschaftsmitglied Kordel Davis am Wochenende in einer TV-Sendung. "Sie haben mich erst ausgelacht und dann bedroht. Sie wollten lieber, dass ihnen selbst nichts passiert. Sie sagten, dass sie das unter Kontrolle hätten und auf ihre Weise regeln wollten." Auf den Kameras ist zu sehen, wie Piazza noch ein paar Mal aufsteht und sich beim Hinfallen wiederholt den Kopf stößt - es ist auch zu erkennen, wie Mitglieder der Bruderschaft über ihn hinwegsteigen. Einer filmt den hilflosen Piazza und veröffentlicht das Video auf dem sozialen Netzwerk Snapchat.

Erst am nächsten Morgen erkennen die Mitglieder der Bruderschaft, dass Piazza doch ärztliche Hilfe benötigte, sie suchen im Internet nach Begriffen wie "Ohnmacht nach Kopfverletzung", "ungewöhnliche Gesichtsfarbe nach Saufgelage" und "kalte Hände bei Betrunkenen". Sie versuchen, ihn aufzuwecken und anzuziehen - gleichzeitig beauftragen sie sich gegenseitig per SMS, Beweismittel wie leere Schnapsflaschen und Bierfässer verschwinden zu lassen. Erst um 10.48 Uhr rufen sie den Notdienst. Piazza stirbt 14 Stunden später in der Notaufnahme eines Krankenhauses an den Folgen mehrerer Schädeltraumata, einer gerissenen Milz und einer mit Blut gefüllten Bauchhöhle.

"Vor zwei Generationen galt Schikanieren und Saufen als Teil der Aufnahme ins Erwachsenenleben."

Der Tod von Timothy Piazza ist das krasseste Beispiel einer ganzen Reihe unschöner Vorfälle, in die Uni-Bruderschaften involviert sind. Es reicht von einer Nacktfoto-Sammlung offensichtlich bewusstloser Studentinnen über rassistische Beschimpfungen von Kommilitonen bis hin zu Folterungen. "Vor zwei Generationen galt Schikanieren und Saufen als Teil der Aufnahme ins Erwachsenenleben", sagt David LaBahn. Er ist der Vorsitzende der Vereinigung amerikanischer Staatsanwälte. "Heutzutage allerdings", sagt LaBahn, "heißt es nicht mehr, 'Jungs sind nun mal so.' Die Leute merken, dass es sich dabei um kriminelle Handlungen handelt." Die Vorfälle dürften nicht mehr als tragische Einzelfälle betrachtet werden, sondern als Teil einer verstörenden Kultur dieser Bruderschaften. "Die Staatsanwaltschaft muss aktiv werden, gemeinsam vorgehen und drakonische Strafen fordern."

Acht Mitglieder sind jetzt wegen fahrlässiger Tötung angeklagt, ihnen droht eine Gefängnisstrafe. Die anderen zehn Angeklagten, die am Dienstagnachmittag verhaftet wurden, könnten mit Geldstrafen davonkommen. Wann die Gerichtsverhandlungen beginnen, soll in Kürze bekannt gegeben werden.

© SZ vom 10.05.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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