Umgang mit Blutrache:Mord ist keine Frage der Ehre

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Angeblich gewähren deutsche Gerichte einen Rabatt für kulturell oder religiös motivierte Straftaten. Doch das ist falsch. Vielmehr drängt sich eine andere Frage auf: Fordert die Scharia überhaupt den von muslimischen Straftätern gern zitierten Ehrenmord?

Von Wolfgang Janisch, Karlsruhe

Vor Kurzem hat das Landgericht Wiesbaden ein Urteil gegen den Deutsch-Afghanen Isa S. gesprochen, der seine schwangere Ex-Freundin erstochen hat. Sie war Deutsch-Amerikanerin, er wollte nicht, dass seine Eltern von der Beziehung erfahren. Dafür hat er lebenslang bekommen, wegen eines heimtückisch und aus niederen Beweggründen begangenen Mordes. In besonders gravierenden Fällen gibt die Justiz zwar einen Zuschlag auf diese Höchststrafe, wegen "besonderer Schwere der Schuld". Dann ist eine vorzeitige Entlassung nach 15 Jahren ausgeschlossen. Darauf hat das Gericht bei Isa S. verzichtet - und dabei unter anderem seine afghanische Herkunft berücksichtigt. Seither geistert ein altbekanntes Gespenst durch Deutschland: die Behauptung, Gerichte gewährten einen kulturellen Rabatt für "Ehrenmorde".

Daran ist zweierlei falsch. Erstens: Das Landgericht Wiesbaden hat gerade keinen Rabatt gewährt, sondern die Höchststrafe verhängt. Verzichtet hat es auf die "Höchststrafe plus" - die nur in Ausnahmefällen zum Einsatz kommt: wenn das Verbrechen noch grausamer und scheußlicher ist als der - sagen wir - Durchschnittsmord. Es geht also um die Steigerungsform der schlimmsten aller Straftaten - den Superlativ des Unfassbaren. Soweit man weiß - bisher gibt es noch keine schriftliche Urteilsbegründung -, haben die Wiesbadener Richter den Angeklagten als ungefestigte Persönlichkeit eingestuft und dabei auch berücksichtigt, dass er - so wird das Gericht in der FAZ zitiert - sich "aufgrund seiner kulturellen und religiösen Herkunft in einer Zwangslage befunden" habe. Als Mörder wurde er trotzdem verurteilt. Nur eben nicht als Supermörder.

Und zweitens: Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) gibt es keinen Kulturrabatt für Ehrenmorde. Jedenfalls nicht mehr. 1981 war das noch anders. Ein Türke hatte seine Frau - die ein Verhältnis mit einem anderen Mann begonnen hatte - mit einer Stechahle zu töten versucht, um seine "verletzte Ehre" wiederherzustellen. Der BGH sah darin seinerzeit keinen versuchten Mord, sondern nur einen versuchten Totschlag. Der Mann sei aufgrund von Erziehung und kultureller Prägung nicht in der Lage gewesen, sich von diesem "Wertegefüge" zu distanzieren.

Problem der Parallelgesellschaften

Hinter dem Ehrenmord steckt also auch das Problem der Parallelgesellschaften. Der Deutsche Richter- und Staatsanwaltstag, der derzeit in Weimar tagt, warnt hier vor rechtsstaatlichen Erosionstendenzen: Wenn der Friedensrichter im Hinterhof eine eigene Werteordnung etabliert, dann verliert die staatliche Justiz an Integrationskraft.

Die Wende beim Ehrenmord vollzog der BGH 1994 - damals ging es um "Blutrache", begangen durch einen aus Ostanatolien stammenden Mann, der den Tod eines Mitglieds seiner Familie vergelten sollte. Der BGH ließ keinen kulturell begründeten Sondermaßstab gelten: Wer sich "gleichsam als Vollstrecker eines von ihm und seiner Familie gefällten Todesurteils über die Rechtsordnung und einen anderen Menschen erhebt, ist als besonders verwerflich und sozial rücksichtslos anzusehen". Seither gilt der Satz: "Der Maßstab für die Bewertung eines Beweggrundes ist den Vorstellungen der Rechtsgemeinschaft in der Bundesrepublik Deutschland zu entnehmen (. . .) und nicht den Anschauungen einer Volksgruppe, die die sittlichen und rechtlichen Werte dieser Rechtsgemeinschaft nicht anerkennt."

Das ist also die Rechtslage: Wer eine Frau tötet, weil sie wegen einer außerehelichen Beziehung die "Geschlechtsehre" seiner Familie beschädigt habe, wer sich durch "Sitten und Gebräuche" legitimiert sieht, einen Menschen ums Leben zu bringen - der handelt aus "niederen Beweggründen" und begeht damit einen Mord. Demnächst wird der BGH wieder einen solchen Fall entscheiden, es geht um den Tod der Tochter aus einer syrischen Großfamilie. Zwei männliche Familienmitglieder haben sie - so hat es das Landgericht Hagen festgestellt - im Hinterhalt erschossen. Weil sie ein von der Familie nicht akzeptiertes Verhältnis zu einem jungen Mann hatte. Wieder ging es um einen vermeintlichen Ehrenkodex. Das Landgericht indes ließ keinen Zweifel daran, dass der Wertekanon des westlichen Kulturkreises maßgeblich sei - zumal beide Angeklagten hier aufgewachsen sind. Einer ging sogar auf die katholische Schule.

So ganz ist die Frage der Ehre aber noch nicht aus der Rechtsprechung verschwunden. Der BGH hält eine "soziokulturelle Prägung" dann für relevant, wenn sie so dominant ist, dass der Täter die Werte der westlichen Welt gar nicht zur Kenntnis genommen hat - wenn er also gleichsam in einer moralischen Nische gelebt hat. In Zeiten des Internets wird man solche Nischen wohl kaum mehr finden.

2004 hatte der BGH beispielsweise über einen Pakistaner zu entscheiden, der bereits mit Axt und Messer vor der Tür eines jungen Mannes stand, um ihn zu töten - weil dieser Fotos seiner Tochter ohne Kopftuch besaß. Der Fall wurde wegen eines Fehlers zurückverwiesen. Aber der BGH legte nahe, dass der Pakistaner sehr wohl aus niederen Beweggründen handelte. "In Pakistan wäre das Opfer schon längst umgebracht worden", hatte der wütende Vater - seit elf Jahren in Deutschland - dem Richter gesagt. Und damit verraten, dass er durchaus wusste, in welcher Welt er jetzt lebte. Und ein türkischer Imam, der seinen Sohn zum Mord an der ungehorsamen Tochter anstiften wollte, musste sich 2007 vom BGH erläutern lassen: Selbst der Verweis auf einen strengen Glauben ändere nichts an den niederen Beweggründen.

Außerdem: Die Scharia - die Gesamtheit der islamischen Gesetze - fordert keineswegs den Ehrenmord. Darauf hat gerade wieder der Zentralrat der Muslime hingewiesen. Die Rechtswissenschaftlerin Esma Çakır-Ceylan bestätigt dies, betont aber in ihrer Dissertation, dass im Islam die Keuschheit der Frau verstärkt gefordert werde. "Ein direkter ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Islam und den Ehrenmorden besteht nicht, die Rollenverteilung wirkt allerdings legitimierend und bestärkend", schreibt sie.

Heute kann sich ein vermeintlicher Ehrenmörder ohnehin nicht mehr auf ein unterschiedliches türkisches Rechtssystem herausreden. Dort werden seit einer Reform 2005 Tötungen "mit dem Motiv der Blutrache" oder "aus Gründen der Sitten und Gebräuche" nach Artikel 82 j und k des türkischen Strafgesetzbuchs sogar noch härter bestraft als andere Tötungsdelikte.

Dass der Ehrenmord in Deutschland als echter Mord bestraft wird und nicht nur als Totschlag, liegt an jener Formulierung, die im Zuge der geplanten Reform des Mordparagrafen in Verruf geraten ist: an den "niederen Beweggründen". Das ist eine Art Auffangklausel, mit der sich besonders verwerfliche Tötungen als Mord einstufen lassen. Sollten die Reformer diesen Passus ersatzlos streichen, dann wäre man am Ende doch wieder beim kulturellen Rabatt für Ehrenmörder angelangt.

© SZ vom 03.04.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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