Ukraine:"Bevor ich klein beigebe, sollen sie mich lieber überwältigen"

Jeder Gang vor die Tür ist für Transgender-Menschen in der Ukraine ein Risiko: Rigorose Geschlechterrollen lassen keinen Raum für sie in der Gesellschaft, ein Outing endet oft in Gewalt. Ein Mann und eine Frau erzählen, wie sie dennoch ihre Identität leben.

Interview von Eva Steinlein

Wer nicht in die Geschlechteraufteilung von Mann und Frau passt, stößt in den meisten Gesellschaften an Grenzen. Viele Staaten geben Transsexuellen und Transgender-Menschen, die sich nicht mit ihrem Geburtsgeschlecht identifizieren, inzwischen die Möglichkeit zu transitionieren: Durch Namens- und Personenstandsänderung, operative Eingriffe und Hormontherapien können sie ihrem empfundenen Geschlecht näherkommen. Doch auch nach diesem Transition genannten Prozess schlägt ihnen vielfach Ablehnung entgegen.

In der Ukraine gelten Transmenschen den meisten als "Geisteskranke" oder "Perverse" und somit als Bedrohung für die Gesellschaft. Das Geschlechterbild sieht nicht nur die eindeutige Aufteilung in Mann und Frau, sondern auch eine klare Rollenverteilung vor. Daher finden Transfrauen und Transmänner auch in der Schwulen-, Lesben- und Bisexuellencommunity kaum Unterstützung - und bleiben oft ein Leben lang allein mit ihrer Identität. Im Gespräch mit der SZ haben zwei von ihnen erstmals einer deutschsprachigen Zeitung ihre Geschichte erzählt.

Ukraine: Inna Iryskina outet sich auf einer Kundgebung - diesmal als Programmiererin.

Inna Iryskina outet sich auf einer Kundgebung - diesmal als Programmiererin.

(Foto: privat)

Inna Iryskina wurde der ukrainischen Öffentlichkeit bekannt, als Zeitungen über die Hochzeit mit ihrem Mann berichteten - der ebenfalls Transgender ist. Sie lebt in Kiew und arbeitet bei der Menschenrechtsorganisation Insight, die Studien über das Leben transsexueller Menschen in der Ukraine herausgibt, mit staatlichen Behörden zusammenarbeitet und ein Hilfezentrum betreibt.

Was ist nach Ihrem Coming-Out als Frau passiert?

Am schwierigsten war wohl das Coming-Out auf der Arbeit. Ich hatte Angst, dass sie mich nicht akzeptieren und hinauswerfen. Aber letztlich ist alles glimpflich ausgegangen. Mein Chef hat mir sogar gesagt, dass er mich unterstützt und ich mich an ihn wenden kann, wenn ich Hilfe brauche. Danach ist mein Leben viel einfacher geworden. Dieses Damoklesschwert verschwindet, das permanent über dir hängt und dich dazu zwingt, ständig zu kontrollieren, wie du sprichst und was du tust, damit niemand herausfindet, dass bei dir "was nicht stimmt". Ich hatte ziemliches Glück. Aber diese Situation ist leider eher die Ausnahme als die Regel.

Welche Erfahrungen machen Transmenschen, die sich outen, in der Ukraine denn typischerweise?

Fast alle sind in ihrem Leben mit Diskriminierung und Gewalt konfrontiert. Hat jemand seine Dokumente noch nicht auf den neuen Namen ändern lassen und sie passen nicht zum Aussehen, dann ist jede Situation ein Risiko, in der man einen Pass vorzeigen muss: Bei der Bewerbung um eine Arbeit, auf der Suche nach einer Wohnung, bei Geldgeschäften auf der Bank, beim Abholen von Paketen auf der Post, bei Reisen ins Ausland.

Bis vor kurzem waren für die juristische Anerkennung des Zielgeschlechts ein einmonatiger Aufenthalt in der Psychiatrie und geschlechtsangleichende Operationen zwingend erforderlich, die von einer Gutachter-Kommission genehmigt werden mussten und eine Zwangssterilisation einschlossen. Das hat sich erst seit Januar dieses Jahres geändert. Dementsprechend ist die ukrainische Trans-Gemeinschaft sehr verschlossen.

Nun muss man nicht in jeder Alltagssituation einen Pass vorzeigen...

Wenn eine Person ihrem Aussehen nach nicht eindeutig als männlich oder weiblich einzuordnen ist, dann ist jeder Schritt vor die Tür mit dem Risiko verbunden, beschimpft oder zusammengeschlagen zu werden. Besonders gefährdet sind nichtbinäre Menschen, die sich nicht als Mann oder Frau definieren, oder Leute während ihrer Transition. Jede Situation kann zu einem unbeabsichtigten Coming-Out mit unberechenbaren Folgen werden - im schlimmsten Fall endet sie in der Verweigerung von Dienstleistungen oder in Gewalt. Außerdem finden Transmenschen leider nur selten Unterstützung in ihrer Familie. Manchmal verheimlichen sie ihren Eltern ihre Transition bis zum Schluss, weil sie sonst aus dem Haus geworfen oder unter Zwang in die Psychiatrie eingewiesen werden.

Finden Transfrauen und -männer keine Hilfe in der LGBT-Community, die sich für Schwule, Lesben, Bisexuelle und eigentlich auch für Transmenschen einsetzt?

Die Mehrheit der Organisationen, die sich LGBT nennen, sind eigentlich Organisationen für Schwule. Den Buchstaben T für Trans vertreten sie nur vordergründig. Noch vor einigen Jahren war Insight fast die einzige Organisation in der Ukraine, die sich wirklich mit Transidentität beschäftigt hat. Auch der Pride-Marsch in Kiew ist in erster Linie eine Schwulenparade. Zwar nehmen auch Transmenschen daran teil, aber ihre Stimmen sind viel weniger zu hören.

Wie motivieren Sie sich da für Ihre Arbeit als Trans-Aktivistin?

Ich habe mich Insight angeschlossen, weil es auch um meine eigenen Rechte geht. Das sind Probleme, mit denen ich selbst konfrontiert war und deshalb verstehe ich, wie wichtig es ist, sie zu lösen. Bei mir steht noch immer "Geschlecht: männlich" im Pass. Durch die neue Rechtslage habe ich endlich die Möglichkeit, das zu ändern. Dass ich auf dem Weg zu diesem Wandel mitgewirkt habe und wir dem echten, spürbaren Ergebnis so nahe sind, ist die beste Motivation für mich.

Hat sich die Situation für Transmenschen in den letzten Jahren verbessert?

Die größten Veränderungen gab es innerhalb der letzten zwei Jahre. Durch die Zusammenarbeit des Gesundheitsministeriums mit Trans-Aktivistinnen und -Aktivisten wurden Gesetze reformiert, die den Transitionsprozess und die juristische Anerkennung des Geschlechts regeln. Auch die Zwangssterilisation gibt es nicht mehr. Das ist ein großer Sieg für uns, aber auch die neue Rechtslage ist nicht perfekt. Wir werden weiter kämpfen, damit die rechtliche Anerkennung des Geschlechts nicht mehr von medizinischen Diagnosen und Prozeduren wie Hormontherapie und Operationen abhängt.*

Trotz aller Gefahren und Schwierigkeiten: Was ist das Beste daran, als Frau zu leben?

Frau zu sein bedeutet für mich in erster Linie eine große Freiheit, sich selbst auszudrücken: Darin, wie ich meine Gefühle zum Ausdruck bringe, wie ich mich kleide, wie ich aussehe. Jetzt bin ich zwar nicht vollkommen zufrieden, aber ich sehe, dass das im Spiegel ich bin - und das ist wunderschön. Zugleich habe ich keines von den Hobbys abgelegt, die man als eher maskulin bezeichnet: Formel 1 gucken, wandern gehen, Zauberwürfel lösen.

"Die Leute, vor denen ich geflüchtet bin, schlugen mich zusammen"

Soldado Kowalisidi wuchs in Kasachstan auf und war in seiner Jugend im Profisport aktiv. Nach der Diagnose seiner Intersexualität durfte er nicht mehr für das Frauenteam starten und lebt seitdem als Mann. Während seines Studiums in Russland engagierte er sich als erster offener Trans-Aktivist in Sibirien - und musste schließlich fliehen. Nun arbeitet er in Kiew bei Amnesty International.

Ukraine: Soldado Kowalisidi kam aus Russland in die Ukraine.

Soldado Kowalisidi kam aus Russland in die Ukraine.

(Foto: privat)

Wie nehmen Sie als Flüchtling die Lage von trans- und intersexuellen Menschen in der Ukraine wahr?

Seit ich aus Russland gekommen bin, fühle ich mich viel sicherer. Wenn ich hier jemanden kennenlerne, habe ich im Allgemeinen keine Probleme; solange man als Transmann ein passables Aussehen hat... Aber ich habe zum Beispiel weibliche Dokumente - und damit fängt alles an.

Welche Schwierigkeiten sind Ihnen begegnet?

Als Flüchtling musste ich zu einer medizinischen Untersuchung und hatte etliche Schwierigkeiten in der Poliklinik. Sie wollten mich dort nicht behandeln und haben mich hundert Mal gefragt: Wo ist diese Frau und warum sind Sie hier? Dem Migrationsamt sollte ich beweisen, dass ich wirklich Trans bin. Ich wollte zum Psychiater gehen, damit er mir eine Bescheinigung ausstellt - aber ich habe keinen Zugang zu ärztlicher Behandlung und auch kein Recht, in der Ukraine eine Transition anzufangen. Eine Hormontherapie habe ich aber begonnen, weil es hier eigentlich ganz leicht ist, Hormone zu kaufen, wenn du Geld dafür hast.

Sind sie auf Ihrem Weg oft auf traditionelle Geschlechterrollen gestoßen?

Ich habe länger in Kasachstan und Russland gelebt als in der Ukraine. Sehr starke Geschlechterrollen fühlte ich in Kasachstan, wo ich zur Schule gegangen bin - als Mädchen. Wir hatten keine andere Perspektive als einen Mann zu finden, mit ihm zu leben und alles für ihn zu tun. In Russland sah es etwas anders aus. Aber an der Universität sagten uns die Professoren, dass Frauen keine Möglichkeit hätten, eine gute Arbeit zu finden und deshalb mehr Aufmerksamkeit aufs Kochen verwenden sollten.

Hier arbeite ich mit Leuten aus den ländlichen Regionen der Ukraine zusammen. In Kiew fühle ich fast keine Unterschiede zwischen Männern und Frauen, aber in der Provinz spürt man sie sofort! Wenn ich aussehe wie ein Mann und dann Frauen versuchen sich irgendwie... ausgesucht höflich zu verhalten, merke ich, dass ich besser gestellt bin als früher. Ich versuche, diese Privilegien mit Frauen zu teilen.

Welche Risiken bringt es mit sich, in der Ukraine offen als Transmann zu leben?

Ich hatte viele Kontakte mit Trans-Jugendlichen... sie können sich eigentlich nicht outen, denn in den Schulen werden sie sonst gemobbt und verprügelt. In der Provinz haben die meisten Menschen keine Ahnung, was Trans bedeutet. Sie glauben, dass das alle Schwule oder Lesben sind - und die werden sehr schlecht behandelt. Die meisten geouteten Transmenschen wohnen in Kiew. Sie sind privilegiert gegenüber denen, die in Konfliktregionen wie dem Donbass leben. Auf der Krim haben Transmenschen keinen Zugang zu Präparaten für die Hormontherapie, einige von ihnen wurden verprügelt, andere vergewaltigt - insbesondere Transfrauen.

Kommt Schützenhilfe aus der LGBT-Community?

Leider verstehen viele schwule, lesbische oder bisexuelle Aktivisten Trans-Themen nicht oder wollen sie nicht verstehen. Einige sagten mir: "Wow, du bist so ruhig und intelligent! Ich kenne mehrere Transmenschen, die nicht ganz bei sich sind..." Es gibt viele Stereotypen über uns in der Community. Außerdem ist da das Gefühl, dass sie uns benutzen. Derzeit gibt es viele Stiftungen, die Projekte mit Transmenschen finanziell fördern. Deshalb fangen einige Organisationen an, mit ihnen zu arbeiten, zum Beispiel in der HIV-Prävention. Als ich mit einer solchen Organisation sprach, war ihnen nur wichtig, dass ich Trans bin. Sie fragten nicht nach meiner Qualifikation.

Wegen Ihrer Arbeit als Trans-Aktivist mussten Sie aus Russland fliehen. Nun engagieren Sie sich auch in der Ukraine...

In meiner Freizeit treffe ich mich mit Unternehmern und wir besprechen, wie man Transleute in den Arbeitsmarkt integrieren kann, auch wenn sie noch keine geänderten Dokumente haben. Weil ein paar andere Aktivisten und ich kein Recht haben, in der Ukraine eine Organisation zu gründen, haben wir die Initiative AdamanT geschaffen. Sie organisiert gemeinsame Veranstaltungen für Transmenschen und die feministische Bewegung, damit sich eine Beziehung zwischen ihnen entwickelt - weil wir bemerkt haben, dass viele Feministinnen in der Ukraine Transmenschen ausschließen und umgekehrt.** Wir wollen zeigen, dass es uns im Grunde um das Gleiche geht. Wenn wir unsere Kräfte bündeln, können wir mehr erreichen als allein. Zu den Veranstaltungen kommen jedes Mal etwa 100 Leute. Für Kiew ist das viel.

Wie schaffen Sie es, dabei nicht auszubrennen?

Wenn ich den Effekt meines Engagements sehe, bin ich wieder motiviert. Als Trainer zum Thema Menschenrechte unterrichte ich hochrangige, gebildete Leute wie Professoren und Mitarbeiter der Nationalpolizei. Die sind zuerst schockiert, dass ich Trans bin - und dann, dass ich mich ausdrücken und ihnen sogar etwas beibringen kann. Mit diesem Wissen gehen sie an ihre Hochschulen zurück und unterstützen Transmenschen, die dort studieren. Nach und nach führt das dazu, dass die Gesellschaft sich zu einer offeneren wandelt.

Fühlen Sie sich in der Ukraine sicher?

Die Leute, vor denen ich aus Russland geflüchtet bin, haben mich mehrmals zusammengeschlagen. Ein Teil von ihnen lebt jetzt in der Ukraine und hat auch Flüchtlingsstatus - weil sie in Russland jetzt vom Staat verfolgt werden und gute Kontakte zu ukrainischen Nationalisten haben... Für mich stellt sich die Frage nicht, ob ich aufgeben soll. Bevor ich klein beigebe, sollen sie mich lieber überwältigen.

Trotz aller Gefahren und Schwierigkeiten: Was ist das Beste daran, als Mann zu leben?

Ich habe das Gefühl, dass ich mein Leben lebe. Dass ich meine eigenen Entscheidungen treffe und niemand mich beeinflussen kann. Ich weiß, was für mich gut ist und das werde ich tun.

*Anmerkung der Redaktion: In einigen Ländern, unter anderem in Deutschland, sind geschlechtsangleichende Operationen oder Hormontherapie keine Voraussetzung für eine Namens- und Personenstandsänderung.

**In ihren Anfängen definierten viele feministische Bewegungen Weiblichkeit sehr biologistisch. Sie sprachen Transfrauen ihre Identität als Frauen ab, während sie Transmännern ein Paktieren mit dem Patriarchat vorwarfen. Der sogenannte queerfeministische Ansatz, der auch transgeschlechtliche Perspektiven berücksichtigt, setzte sich erst später - und längst nicht überall - durch.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: