Tödliche Messerattacke auf 55-Jährigen in Berlin-Spandau:Rache für ein kaputtes Leben?

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In seiner Wohnung empfing der einschlägig vorbestrafte Harry H. regelmäßig pubertierende Jungs aus der Nachbarschaft. Jetzt ist er tot. Ein 15-Jähriger soll den Mann erstochen haben. Es habe Streit gegeben, sagt der mutmaßliche Täter.

Constanze von Bullion, Berlin

Wenn es Orte gibt, an denen die Trostlosigkeit wohnt, dann hat sie hier ein Zuhause gefunden. Ganz unten in einem dieser Elfgeschosser, die wie ein mürbe gewordener Zahn am Stadtrand von Berlin stehen, aschfahl, vernachlässigt, ein grau gewordener Menschenkäfig.

Berlin-Spandau, Falkenhagener Feld am Montag, das Blut ist weggeputzt vom Fenstersims, und der Mann, von dem manche im Viertel dachten, er sei uralt, ist tot. Es hat niemand Blumen vor sein Haus legen mögen. Harry H. hat in Nummer 54 gewohnt, Parterre rechts, die Haustür hat die Polizei versiegelt. Sie liegt am Ende eines schäbigen Flurs, hinter aufgebrochenen Briefkästen, zerkratzten Wänden, braunen Staubflusen, Dreck. Aus der Haustür von Harry H. hat jemand den Spion herausgebrochen, durch das Loch im Holz zieht kalte Luft. Sie riecht nach Rauch, und das wenige, das drinnen zu erkennen ist, sieht nicht nach einem trauten Heim aus.

Für ein paar Jungs aus der Gegend aber scheint die Welt hinter der Tür des Harry H. immer noch mehr geboten zu haben als das, was sie zu Hause hatten. Es gab da einen Fernseher und Computerspiele, zu rauchen und zu trinken und angeblich auch Pornos für pubertierende Jungs. John S. war einer von ihnen, er ist 15 Jahre alt, und nach dem wenigen, was Polizisten und Staatsanwälte über ihn in Erfahrung gebracht haben, kommt er aus schwierigen sozialen Verhältnissen. Zuletzt soll er beim Vater gelebt haben, der Verbleib der Mutter ist unbekannt. Auch der Vater soll sich nicht recht gekümmert haben um den Jungen, weshalb immer wieder die Stiefmutter eingesprungen sei, sagen Ermittler.

"Wenig vertrauenserweckend"

Und dann? Soll John S. ein Messer gezogen haben, nicht gegen seine Eltern und den Rest der Welt, sondern gegen Harry H. H. war 55 Jahre alt, als er starb, er soll erst vor ein paar Jahren nach Berlin gezogen sein, es hat wohl keiner danach gefragt, wo er eigentlich herkam. Manchmal sah man ihm im Supermarkt, sagt eine Ladenbesitzerin aus dem Viertel, da habe er herumgeschimpft und den Eindruck erweckt, als sei er nicht ganz richtig im Kopf.

Nein, sagt ein älteres Ehepaar aus einem der oberen Geschosse des Hauses, sie hatten nichts zu tun mit dem da unten. "Wenig vertrauenserweckend." Unten, in der Nachbarwohnung von Harry H., lebt eine Familie mit Kindern, aber auch hier kam offenbar kein Erwachsener auf die Idee, dass auf der anderen Seite einer sehr dünnen Wand, durch die man jedes Wort hören kann, jemand Hilfe brauchte.

Am Donnerstag ist es Harry H., der um sein Leben kämpft, Nachbarn finden ihn sterbend auf dem Rasen. Er hat es noch geschafft, aus dem Fenster seiner Erdgeschosswohnung zu klettern, das verraten Blutspuren am Fensterbrett. Harry H. stirbt kurz darauf an Messerstichen, im Hausflur findet die Polizei John S., der verstört ist, voll Blut. Und geständig, dass er Harry H. erstochen hat. Mit 15 Jahren und nach einer angeblich "längeren Vorbeziehung", wie der Sprecher der Staatsanwaltschaft, Martin Steltner es ausdrückt.

Wenn stimmt, was John S. den Ermittlern erzählt hat, dann hat er schon seit einer Weile Sexualkontakte mit dem 40 Jahre älteren Harry H. gehabt. Im Nachhinein ist jetzt auch Nachbarn aufgefallen, dass da immer wieder pubertierende Jungs zu Besuch waren, nicht nur John S., und dass man das schon hätte komisch finden können. Theoretisch. Andere wollen immer schon geahnt haben, dass da ein Pädophiler unterwegs war.

Drei Jahre Gefängnis wegen sexuellen Missbrauchs

Was sie nicht wussten, war, dass Harry H. in den letzten zehn Jahren zweimal wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern zu Freiheitsstrafen verurteilt wurde und über drei Jahre deshalb im Gefängnis gesessen hat.

Natürlich gab es nach der Haft einen Betreuer, und natürlich wurden die üblichen Auflagen gemacht. Es sieht aber nicht aus, als habe das irgendwas verhindern können. Harry H., dieses Bild zeichnet - bei aller Vorsicht - auch die Staatsanwaltschaft, scheint aus dem Nest gefallenen Jungs etwas Geborgenheit geboten zu haben, im Tausch gegen sexuelle Gefälligkeiten. Wie lange das schon so ging, wenn es denn so war, das wird nun die Staatsanwaltschaft klären müssen.

Auch ob und inwieweit es zu einvernehmlichem Sex kam, ist noch unklar, und nicht unwichtig. Sexuelle Handlungen eines Erwachsenen mit einem Minderjährigen sind nur dann strafbar, wenn der Minderjährige jünger ist als 14 Jahre. Ist er älter, wie im Fall von John S., gelten sie nur dann als Straftat, wenn der Erwachsene dabei Gewalt anwendet oder eine Notlage ausnutzt.

Ob John S. am Ende zum Messer gegriffen und Harry H. erstochen hat, weil er verzweifelt war, wütend, in auswegloser Lage, ob er die Tat geplant hat, das Messer also schon mitgebracht hat in das schäbige Reich des Harry H., um Rache zu nehmen für ein kaputtes Leben - das alles war am Montag noch ein Rätsel.

John S. sagt, es habe Streit gegeben.

© SZ vom 06.11.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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