Schiffbrüchiger Mittelamerikaner:Überleben auf hoher See

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Die Geschichte klingt wie ein Märchen: Ein Mann behauptet, 13 Monate in einem offenen Boot auf hoher See überlebt zu haben, 12.500 Kilometer will er über den Pazifik getrieben sein. Kann man eine solche Reise überstehen? Und wenn ja - wie?

Von Sonja Salzburger

Falls der Mann die Wahrheit sagt, hat er eine unglaubliche Odyssee hinter sich. Vor einer Woche ist José Salvador Alvarenga auf dem Ebon-Atoll der Marshallinseln aufgetaucht, einem Inselstaat 4000 Kilometer nordöstlich von Australien. Eigentlich hatten er und sein 15-jähriger Begleiter nur einen Tagestrip geplant, als sie Ende Dezember 2012 von einem Hafen an der Westküste Mexikos auf den Pazifik hinausschipperten, behauptet Alvarenga. Doch dann sei der Motor ausgefallen und sie hätten die Kontrolle über ihr Boot verloren.

Für Alvarenga wurde es ein 13 Monate langer Kampf ums Überleben. Er habe sich von Fischen, Schildkröten und Vögeln ernährt, sagt Alvarenga. Getrunken habe er Regenwasser, Tierblut und Eigenurin. Sein jüngerer Begleiter, dessen Name Ezekiel gewesen sein soll, sei nach wenigen Wochen gestorben, er habe das Schildkrötenblut nicht vertragen.

Der Mann wirkte nicht ausgezehrt

Es klingt wie ein Märchen, aber manches spricht dafür, dass der Mann tatsächlich die Wahrheit erzählt. Die Fischereigenossenschaft "Camaroneros de la Costa", die Alvarenga als Arbeitgeber angibt, hatte im Dezember 2012 zwei Mitarbeiter als vermisst gemeldet. Angestellte der Fischerei erkannten ihren alte Kollegen jetzt auf den Pressefotos wieder.

Stutzig macht, dass der Mann mit dem gegerbten Gesicht und dem zotteligen roten Bart zwar etwas verwahrlost aber nicht unterernährt wirkt. Ob Alvarenga tatsächlich ein Überlebenskünstler ist oder einfach nur ein guter Märchenonkel, lässt sich schwer beurteilen. "Er ist sicherlich in einer deutlich besseren Verfassung, als man nach so einer Tortur erwartet hätte", gab der US-Botschafter Thomas Armbruster in der Inselhauptstadt Majuro in einem Interview mit dem Sender CNN zu Bedenken. Und so wirft Alvarengas Fall einige Fragen auf: Wie kann ein Mensch überhaupt so lange allein auf einem offenen Boot auf hoher See überleben? Und reichen Vögel, Fische und Schildkröten als einzige Nahrungsquelle?

"Der Mensch ist extrem anpassungsfähig"

"Der Mensch ist ein Allesesser und daher extrem anpassungsfähig", sagt der Ernährungsmediziner Hans Hauner, der als Professor an der Technischen Universität München lehrt. Auch wenn es nicht jeder Magen vertrage, könnten sich viele Menschen von rohem Fleisch ernähren, so wie es unsere Vorfahren vor der Erfindung des Feuers auch getan haben, meint der Ernährungsexperte. Ein großer Vorteil sei, dass sich der Mensch durch eine "hohe metabolische Flexibilität" auszeichne. Das bedeutet, er ist in Extremsituationen in der Lage, aus in Fleisch enthaltenen Proteinen Kohlenhydrate aufzubauen, die für die Funktion des Gehirns von überlebenswichtiger Bedeutung sind.

"Der Mann muss wahnsinniges Glück gehabt haben", sagt der ehemalige Schiffsarzt Doktor Thomas Hausen. Die größte Herausforderung auf hoher See sei die Wasserversorgung. Viele Schiffbrüchige wüssten, dass Salzwasser gefährlich sei und würden deswegen den Fehler begehen, lange gar nichts zu trinken. Irgendwann würden sie vor Durst verzweifeln und anfangen große Mengen Salzwasser zu sich zu nehmen. Das sei tödlich. "Sie müssen sich das ähnlich vorstellen wie beim Pökeln von Fleisch", erklärt der Allgemeinmediziner. Wenn man größere Mengen Flüssigkeit mit einem höheren Salzgehalt als den des eigenen Körpers aufnimmt, trocknet man aus.

Trinkwasser mit Salzwasser strecken

"Geringe Mengen Salzwasser kann der Körper jedoch noch verdünnen", so Hausen. Deswegen würde er Schiffbrüchigen empfehlen, reines Trink- oder Regenwasser mit Salzwasser zu strecken. Ein weiterer Trick bestünde darin, eine Plane aufzuspannen, bestenfalls aus Cellophan, und das Kondenswasser aufzulecken, welches sich auf der Unterseite der Plane bildet. Den eigenen Urin zu trinken, so wie Alvarenga es getan haben will, hält Hausen dagegen für eine recht kurzfristige Lösung, schließlich würden Harnstoffe bei geringer Flüssigkeitszufuhr immer stärker konzentriert, bis der Mensch irgendwann fast gar keine Flüssigkeit mehr ausscheide.

Eine weitere Option bestünde darin, Meeresfrüchte auszulutschen, so der ehemalige Schiffsarzt. Allerdings müsse man sich dafür sehr gut auskennen, um keine giftigen Lebewesen zu erwischen. "Fische und Meerestiere sind sehr neugierig", sagt Hausen. Um sie anzulocken, könne man eine Lampe oder eine Hand ins Wasser halten und sie mit einem geschickten Handgriff fangen. Alvarenga berichtet, genau dies getan zu haben - dass sich der Fischer mit Meeresfrüchten auskennt, liegt auf der Hand.

Eine große Gefahr für Schiffbrüchige ist auch die Sonne. Sonne und Salzwasser trocknen die Haut aus, was neben dem Flüssigkeitsverlust zu Geweberissen und gefährlichen Entzündungen führen könne, so Hausen. Deswegen empfiehlt er auf hoher See, den eigenen Körper so gut es geht zu bedecken. Alvarenga erzählte, dass er sich nur mühsam vor der Sonne schützen konnte, indem er sich unter einer Kiste auf seinem Boot verkroch.

In Extremsituationen fallen moralische Schranken

Blut zu trinken ist eine weitere Möglichkeit, Nährstoffe und Flüssigkeit aufzunehmen. In Extremsituationen seien Menschen schnell bereit, moralische Schranken oder Ekelgefühle abzulegen, sagt Hausen. Alvarenga berichtete, er habe Schildkröten und Vögel gefangen und seinen Durst mit deren Blut gestillt.

Dass es noch weiter gehen kann, beschreiben sowohl der Ernährungsmediziner Hauner als auch der ehemalige Schiffsarzt Hausen - und erinnern an ein Beispiel aus der Vergangenheit, das etwa 40 Jahre her ist. Am 13. Oktober 1972 zerschellte ein Flugzeug der Luftwaffe Uruguays in 4000 Metern Höhe an einem Berghang in den Anden. Von den 45 Insassen wurden schließlich 16 gerettet. Die Landungsbrüchigen konnten mehr als zwei Monate im Eis überleben. Nach wenigen Tagen blieb ihnen jedoch nur noch eine einzige Nahrungsquelle: das Fleisch der Verstorbenen. Alvarenga behauptet, er habe seinen verstorbenen Begleiter nach dessen Tod über Bord geworfen.

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