Rückfälliger Straftäter in Niedersachsen:Drängende Fragen nach Missbrauch bei Freigang

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Hätte die Tat verhindert werden können? Nachdem ein Straftäter in Niedersachsen bei einem Freigang ein Mädchen missbraucht hat, wird Kritik an den Behörden laut. Fast 200 Mal war dem Mann zuvor ohne Probleme Ausgang gewährt worden.

Mit diesem Fahndungsbild sucht die Polizei nach dem flüchtigen Sexualtäter Reinhard R. (Foto: dpa)

Fast 200 Mal verließ der Mann die Einrichtung in Lingen im Emsland, in der er wegen Sexualdelikten und anderer Gewalttaten zuletzt in Sicherungsverwahrung einsaß. Fast 200 Mal passierte nichts. Bis zum vergangenen Samstag. Auf einem Freigang soll der 51-Jährige ein Mädchen missbraucht haben, seither ist er auf der Flucht. Nach ihm wir per internationalem Haftbefehl gesucht.

"Die Vorwürfe wiegen schwer", sagte Niedersachsens Justizministerin Antje Niewisch-Lennartz, die auf einen schnellen Fahndungserfolg der Polizei hofft. Sie steht unter Druck, lautet doch die drängende Frage: Hätte diese Tat verhindert werden können? Hat die reformierte Sicherungsverwahrung versagt? Wie ist es um das System von Lockerungen und Begutachtungen durch Psychologen bestellt?

"Das ist eine schwere Prognoseentscheidung, die wir den Gutachtern da abverlangen", sagte die Grünen-Politikerin zur Arbeit der Experten. "Herauszufinden, wann lügt jemand, wann lügt er nicht, das ist eine der größten Herausforderungen der Gutachter", meint die Ministerin. "Ein bestimmtes Vertrauen in den Täter muss da sein, um Ausgang zu genehmigen."

Eine letzte Begutachtung des unter anderem bereits wegen Totschlags und dreier Sexualdelikte verurteilten Mannes habe ergeben, dass die Lockerungen nicht zu beanstanden gewesen seien, sagte die Justizministerin. Für eine Entlassung sei der Mann aber noch nicht reif gewesen. Nach Absitzen einer Haftstrafe wegen schwerer Körperverletzung befand er sich seit 2007 in Sicherungsverwahrung. 2011 begann er eine Sozialtherapie, wobei ihm in den vergangenen zwei Jahren zunächst 188 begleitete und später 172 kurze unbegleitete und 22 mehrtägige Ausgänge gewährt wurden.

Flucht nach Alkoholtest

Während seines jüngsten fünftägigen Ausgangs soll der 51-Jährige in der Wohnung eines Bekannten ein 13-jähriges Mädchen missbraucht haben. Zwar meldete er sich nach der mutmaßlichen Tat am Freitag am nächsten Morgen noch für einen vorgeschriebenen Alkoholtest im Gefängnis. Da die Tat aber erst am späten Samstagabend angezeigt wurde, gelang ihm dennoch die Flucht.

Zunächst hätten Zielfahnder versucht, den Mann zu fassen, seit Dienstag läuft eine öffentliche Fahndung. Es gebe eine Vielzahl von Hinweisen auf den 51-Jährigen, jedoch noch keine konkrete Spur, sagte ein Polizeisprecher am Donnerstag in Lingen. "Der wird in ganz Deutschland gesehen", sagte der Sprecher.

Um die Gefahr von Fehleinschätzungen zu verringern, schuf Niedersachsen vor sechs Jahren ein zentrales Prognosezentrum in Hannover. In der Justizvollzugsanstalt arbeiten Psychologen im Team, um Risikoeinschätzungen bei Sexualstraftätern nach der Entlassung abzugeben oder zu möglichen Lockerungen Stellung zu nehmen. Auch der 51-Jährige aus Lingen wurde dort begutachtet. Ermittlungsakten, Gutachten aus dem Gerichtsprozess sowie die Gefangenenakte spielen eine Rolle. Im Mittelpunkt der Gespräche mit den Betroffenen stehen die Vorgeschichte der Tat sowie die Rolle von Familie und Partnerschaften.

Prognose bleibt "Wahrscheinlichkeitsvoraussage"

Auch werden Persönlichkeitsfragebögen eingesetzt um zu sehen, wie die Täter sich selbst beschreiben. Darauf, dass Häftlinge sich verstellen oder täuschen, um mit einer günstigen Prognose schneller in Freiheit zu kommen, sind die Experten vorbereitet. Sie arbeiten im Team und besprechen sich in Fallkonferenzen. "Das ist eine Wahrscheinlichkeitsvoraussage, unter welchen Bedingungen ein Mensch wieder vor die Türe gehen kann", sagte eine der Psychologinnen.

Dem populistischen Ruf nach einem vorsorglichen Wegsperren für immer kann die Justiz spätestens seit Urteilen des Europäischen Gerichtshof für Menschenrecht sowie des Bundesverfassungsgerichts im Jahr 2011 nicht mehr entsprechen. "Die Sicherungsverwahrung ist so auszurichten, dass eine Chance besteht, wieder herauszukommen", erklärt Justizministerin Niewisch-Lennartz dazu. "Eine Grundvoraussetzung für Lockerungen ist, dass jemand bereit ist, sich kritisch mit der Tat und sich selbst auseinanderzusetzen."

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