Protest in Istanbul:Aktivisten, sprühend vor Kreativität

Proteste in der Türkei: Graffiti

Mit Schablonen gegen Ministerpräsident Erdogan und seine AKP.

(Foto: Regina Schmeken)

Die Demonstranten in Istanbul finden täglich neue Formen des Protests. Sie stehen und starren, sie beschriften Schuhe. Und sie sprayen Parolen. Die Ordnungskräfte kommen mit dem Übertünchen kaum noch nach.

Von Christiane Schlötzer (Text) und Regina Schmeken (Fotos)

Der Himmel zeigt ein verwaschenes Blau, eine steife Brise fegt vom Bosporus über den Taksim. 25 Grad Celsius. Das ist der Istanbuler Sommer. Die große Hitze kommt erst noch, vorher leert sich gewöhnlich die Stadt. Aber was ist in diesem Jahr schon normal. Vor dem Gezi-Park sitzen Polizisten ohne Panzerwesten auf weißen Plastikstühlen und lesen Bücher, Tolstoi und Umberto Eco. Was ist das nun schon wieder für eine Aktion?

Die Donnerschläge der Gasgranaten sind verhallt, die lauten Parolen verklungen, die Banner eingerollt, aber die Generation Gezi gibt sich nicht geschlagen. Sie findet fast jeden Tag neue Formen des Protests: Die sind weniger schrill oder gleich ganz still. Ein paar zurückgelassene Schuhe - Ballerinas, Babysandalen, Stiefel - und unter den Sohlen Zettel. Darauf steht: "Einzeln und doch brüderlich". Auch das ist ein Protest gegen Premier Recep Tayyip Erdogan, der sein Volk immer radikaler in Freund und Feind teilt. Zwei türkische Modemacher haben mit der Schuh-Aktion angefangen, andere machen es nach.

Proteste in der Türkei: Graffiti

"Oh Biber" bedeutet soviel wie "Oh Pfefferspray".

(Foto: Regina Schmeken)

Eine Idee genügt, schon ist die nächste Welle da. Der Taksim-Platz war nach den brutalen Polizeieinsätzen eine Art No-go-Zone. Leer und leblos. "Die Stehenden" haben ihn zurückerobert Zu fast jeder Tages- und Nachtzeit sind sie da, stehen stumm für Stunden oder nur Minuten, den Blick auf das mehrere Stockwerke hohe Atatürk-Poster gerichtet, das am Kopfbau des Taksim, dem Atatürk-Kulturzentrum (AKM), im Wind flattert. Erdogan will das AKM beseitigen, wie Staatstheater, Oper und Staatsballett.

Seit die "Duran Adam", die "Stehenden Menschen", da sind, sind auch die Straßenhändler auf den Taksim zurückgekehrt, mit Sesamkringeln und Socken, eisgekühlten Getränken und Gegrilltem. Gasmasken und Helme haben sie nicht mehr im Sortiment. Vizepremier Bülent Arinc hat das Stehen schon als "friedlichen Protest" bezeichnet. Arinc warnte nur vor "Gesundheitsproblemen" durch langes Verharren in der Hitze und empfahl, nicht länger als "acht Minuten" zu stehen.

Farbbandagen gegen den Protest

Vor Gesundheitsproblemen durch Pfefferspray und Gummigeschosse hatte die Regierung nicht gewarnt. Die Ärztekammer Istanbul zog nach 20 Protesttagen eine gruselige Bilanz: 7833 Verletzte im ganzen Land, vier tote Demonstranten und ein toter Polizist, 13 Menschen haben ihr Augenlicht durch Gasgranaten verloren, vier Verletzte sind noch auf der Intensivstation. Es gibt Berichte über schwere Misshandlungen einzelner Demonstranten durch Zivilpolizisten, über Ärzte, die Angst hatten, Verletzte in ihrer Klinik nicht vor der Polizei beschützen zu können.

Proteste in der Türkei: Graffiti

Noch hat Ministerpräsident Erdogan diese Hoffnung der Demonstranten nicht erfüllt. 

(Foto: Regina Schmeken)

Auch die Stadt Istanbul ist verwundet. Die weißen Farbflächen, mit denen viele Graffiti mittlerweile übermalt sind, wirken wie große Bandagen. Aber es gibt so viele Wandmalereien, dass die Übertüncher kaum nachkommen. Jeden Morgen sind frische Verwünschungen zu lesen, gegen Erdogan, die Polizeigewalt. Wut und Witz füllen Wände. Dazwischen plakatgroße Computerausdrucke über die Rechte, die jeder Festgenommene hat.

Die Nacht gehört aber nicht nur den Graffiti-Schreibern. Nach dem Motto "Jeder Park ist Gezi" lädt die Protestjugend allabendlich in diverse Istanbuler Grünanlagen. Hunderte kommen jeweils und machen die Parks zum offenen Parlament. Bei einer Versammlung im "Cihangir Park", im Zentrum Istanbuls, wo es zwar Kinderspielgeräte, aber kaum Grün gibt, fordert ein Mann, man sollte "wieder Zelte bauen". Eine junge Frau widerspricht: Das würde nur einen neuen Polizeieinsatz provozieren, und sie habe genug vom Gasmaskentragen. Der Applaus ist auf ihrer Seite. Es gibt nun auch eine Facebook- Seite "Cihangir Parki", zum Weiterdiskutieren.

Proteste in der Türkei: Graffiti

Am Gezi-Park beim Taksim-Platz hatte man schon mit Abbrucharbeiten für das geplante Geschäftszentrum begonnen.

(Foto: Regina Schmeken)

In der Nacht zum Freitag taucht bei einer solchen Park-Versammlung im feinen Viertel Yeniköy plötzlich eine Gruppe von islamischen Fundamentalisten auf, mit Messern bewaffnet. Es kommt zum Tumult. Die Polizei verhindert Schlimmeres. Die Gegner der Gezi-Bewegung nutzen auch das Internet - als Pranger. Da werden Musiker, TV-Moderatoren und Schauspieler, die fast jeder in der Türkei kennt, als Teil eines bösen "Spiels" geschmäht, weil sie sich für die Gezi-Besetzer eingesetzt haben. Halit Ergenc steht auch auf der schwarzen Liste. Er spielt in der erfolgreichsten türkischen TV-Serie aller Zeiten Sultan Süleyman den Prächtigen.

Auf dem Taksim tauchen auf einmal acht bärtige Männer auf, die den "Stehenden" demonstrativ den Rücken zuwenden. Auf ihren weißen T-Shirts steht: "Gegen die Stehenden Menschen stehende Menschen". 45 Minuten später ist dieser Spuk wieder vorbei. Doch auch dieser Auftritt bleibt nicht ohne Antwort: "Stehlt keine Ideen, seid selbst kreativ", schreibt einer der stillen Steher auf ein Plakat.

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