Pop:Heul doch

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Kitschnudel? Diva? Total nett? Céline Dion auf ihrer aktuellen Tour. (Foto: AFP)

My heart will go on, The Power of Love, Because You loved me: Die Lieder von Céline Dion sind wirklich unerträglicher Kitsch. Bis man plötzlich erwachsen ist - und das Sentimentale auch völlig unironisch genießen kann.

Von Kathleen Hildebrand, Berlin

Die Wege des Erwachsenwerdens sind unergründlich. Meist aber läuft das so: Man hat als junger Mensch eine tiefe Abneigung, erst gegen Spinat, später gegen eine bestimmte Sorte Musik. Abgrenzung und Distinktion gehören zur Identitätsbildung dazu. Aber irgendwann, wenn man der Schulzeit entwachsen ist, lohnt es sich zurückzublicken und diese Abneigungen zu überprüfen, mit altersmildem Blick sozusagen. Der ultimative Beweis dafür, dass man gereift und eben nicht geistig-emotional auf der Stelle getreten ist, könnte zum Beispiel sein, dass man es schafft, Céline Dion gut zu finden. Ganz unironisch.

Rapper dürfen über hartes Zeug rappen. Aber zu viel Sentimentales? Nein danke

Dass das gerade sehr vielen Menschen zu gelingen scheint, ist eine der interessantesten Entwicklungen des Popjahres 2017. Céline Dion ist zur Ikone geworden, auf eine Weise, wie sie es noch nie gewesen ist in ihrer 35-jährigen Karriere. Aber wie konnte das passieren, dass Dion, die bis vor Kurzem noch als nervigste Kitschnudel von allen galt, jetzt in Williamsburger Hipstercafés zu hören ist, und zwar inklusive mitsingender, tätowierter Kellnerinnen?

Céline Dion hat zwar schon seit Jahrzehnten Abermillionen Fans auf der ganzen Welt, hat 250 Millionen Alben verkauft und am Sonntagabend in Berlin vor 12 000 Menschen gesungen (tags darauf gleich noch mal). Aber die, die sich über ihren Geschmack definieren, fanden sie schon immer peinlich. Ihre Stimme sei wie "Möbelpolitur", schrieb ein amerikanischer Kritiker mal. Eine Kritikerin, sie sei wohl die abstoßendste Frau, die je Lieder über Liebe gesungen habe. Dion verkörperte für viele, die sich informiert fühlen, die unerträglichste Popmusik überhaupt: sentimentale Massenware.

Das Irre ist, dass man all diese Vorurteile sofort vergisst, wenn Céline Dion auf die Bühne tritt, in diesem Fall auf die der Berliner Mercedes-Benz-Arena. Glanzhose und Glitzerblazer, ein Bein angewinkelt wie Elvis und so lasziv mit dem Becken kreisend wie er. Nur eben mit dieser charmanten, immer irgendwie unbeholfen wirkenden Dion'schen Steifheit. Man nimmt ihr das Celebrity-Klischee ab, dass sie eine ganz normale Frau ist, die nur ein unnormales Leben führt. Und die eben einfach diese Wahnsinnsstimme hat, mit der sie einen hohen Ton in diesen Saal schicken kann, und er zerschneidet zehn Sekunden lang die Luft wie die Scheinwerfer die Dunkelheit. Eine Diva! Dann läuft sie ein paar Schritte rüber zum Flügel mit nach vorne gezogenen Schultern, ein bisschen wie ein Kerl, der da jetzt 'ne Bierflasche abstellen will.

Was hier nicht jeder weiß, ist, dass Céline Dion 13 Geschwister hat. Sie kommt aus armem Haus in einer Kleinstadt bei Montréal und ist ihrer Herkunft nach das, was in Amerika "White Trash" genannt wird. Ihr Mann René Angelil ist vor anderthalb Jahren an Krebs gestorben, zwei Tage darauf starb auch einer ihrer Brüder. Sie macht sentimentale Musik, "My heart will go on", "The power of love", immer zu laut, zu groß, zu ungehemmt gefühlig für Leute, die Wert auf Distinktion legen. Sie macht ausladende Handbewegungen und klopft sich heftig auf die Brust beim Singen. Da lässt sich nichts umdeuten. Aber muss das Sentimentale ein Vorwurf sein? Rappern wird auch nicht vorgeworfen, dass sie nur über die harten Seiten singen. Das Weiche aber, das muss sich rechtfertigen.

Céline Dion ist auf der Bühne vor allem eines: wirklich unfassbar nett. Wenn sie sich beim Publikum dafür bedankt, dass es ihr eine so lange Karriere ermöglicht hat, bekommt sie feuchte Augen. Die Leute spenden, offenbar selbst gerührt, minutenlang stehend Applaus. Dann muss Céline Dion weinen. Ein solches ungebrochenes Schwelgen in Rührung und Gefühl, zusammen mit 12 000 Menschen, das hat etwas beinahe Religiöses. Zumindest ist es reinigend. Und war Katharsis nicht mal das große Ideal für Kunst - bevor alle lieber distanziert schauen, hören, fühlen wollten?

Es lohnt sich, den Versuch mit der Milde mit Dions Musik zu machen. Sich einfach rühren zu lassen. Und warum auch nicht? Der kanadische Popkritiker Carl Wilson hat 2007 ein Buch über Céline Dion veröffentlicht, in dem er seiner eigenen Abneigung ihrer gefälligen, massentauglichen Musik gegenüber auf den Grund geht. Sentimentale Kunst, schreibt Carl Wilson am Ende seines Dion-Selbstversuchs, sei wie ein "Workout, bei dem man seine Gefühle trainiert, sie fit hält für den Einsatz." Vielleicht ist es Dions Musik, die unsere Welt gerade braucht.

Es geht in ihren Liedern um etwas ganz anderes als um Innovation, Kritik, Originalität. Es geht um etwas, das neben all der anderen großartigen, komplexen Popmusik, die es heute gibt, auch eine Existenzberechtigung hat. Um das Einfache. Um das, was verbindet und was, trotz allem Furchtbaren, schön ist am Menschsein. Liebe zum Beispiel, Zusammenhalt, Mitgefühl. In einer Zeit, in der alle überlegen, worauf sich die Menschen in komplett polarisierten Gesellschaften noch einigen können, ist Dions Musik ein Geschenk.

© SZ vom 25.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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