Polizeigewalt in USA:Video zeigt Tötung von schwarzem Teenager in Chicago

  • Die Stadt Chicago veröffentlicht ein Video, das dokumentiert, wie ein Polizist 16 Mal auf einen schwarzen Teenager schießt, der sich von ihm abwendet.
  • Der Beamte ist nun wegen Mordes angeklagt worden.
  • Der Vorfall ereignete sich bereits im Oktober 2014 - erst nach Klagen von Journalisten ordnete ein Richter die Freigabe der Filmaufnahme an.
  • Kritiker vermuten, dass prominente Politiker und das Chicago Police Department das Video zurückhalten wollten.

Von Matthias Kolb, Washington

Was auf dem schockierenden Video zu sehen ist

In Chicago haben Behörden Filmmaterial veröffentlicht, das der Debatte über Polizeigewalt in den USA neue Nahrung geben wird. In dem verstörenden Video, das vom Armaturenbrett eines Polizeiautos aufgenommen wurde, ist zu sehen, wie der Beamte Jason Van Dyke 16 Schüsse auf den schwarzen Teenager Laquan McDonald abfeuert. Der 17-Jährige bewegt sich dabei nicht auf den Polizisten zu oder spricht mit ihm. Der Vorfall ereignete sich am 20. Oktober 2014, also wenige Wochen nach den tödlichen Schüssen eines weißen Polizisten auf Michael Brown in Ferguson.

Die Chicagoer Staatsanwaltschaft hat Van Dyke am Dienstag - also mehr als ein Jahr nach dem Vorfall - des Mordes angeklagt. Staatsanwältin Anita Alvarez zufolge sei der Mann weniger als 30 Sekunden am Tatort gewesen, bevor er auf den jungen Afroamerikaner schoss. Nur sechs Sekunden, nachdem er sein Polizeiauto verlassen hatte, habe der 37-Jährige das Feuer eröffnet - und 14 Schüsse seien gefallen, nachdem Laquan McDonald bereits auf dem Boden lag. Während die Staatsanwältin Van Dykes Verhalten als "nicht gerechtfertigt" bezeichnet, sagt dessen Anwalt, dass der Polizist sich bedroht gefühlt habe.

So reagiert die Öffentlichkeit

In Chicago demonstrierten am Dienstagabend Hunderte Bürger und hielten Plakate hoch, die an andere junge Afroamerikaner erinnerten, die von Polizeibeamten getötet wurden. Viele schwarze Bewohner der drittgrößten Stadt der USA dürften ähnlich denken wie der 45-jährige Sam Griffin, den die Washington Post vor einem Burger King nahe des Tatorts befragte: "Dieses Video zeigt, wie die Cops hier Schwarze behandeln. Man schießt nicht einmal so oft auf ein Tier, um es zu erlegen."

Demonstrators block the street with a sign during protests in Chicago

Demonstranten protestieren in Chicago gegen Polizeigewalt.

(Foto: REUTERS)

Die Bürgerrechtsorganisation NAACP (National Association for the Advancement of Colored People) nennt es inakzeptabel, dass das Video erst nach mehr als einem Jahr publik wird. Andere Aktivisten der "Black Lives Matter"-Bewegung sehen den Fall als Beleg dafür, dass mehr Polizeikameras helfen können, Fälle von Polizeigewalt aufzuklären.

Bürgermeister Rahm Emanuel hatte im Vorfeld an die Bürger appelliert, Ruhe zu bewahren. Garry McCarthy, der Chef der Chicagoer Polizei, erklärte in einer Pressekonferenz: "Die Leute haben ein Recht darauf, wütend zu sein. Sie haben ein Recht darauf, zu protestieren und ihre Meinung zu äußern. Aber sie haben kein Recht darauf, kriminell zu werden." Bis zum Mittwochmorgen deutscher Zeit wurden keine Ausschreitungen gemeldet.

Wieso das Video erst so spät öffentlich wurde

Die Stadt Chicago hatte es mehr als ein Jahr lang abgelehnt, die Filmaufnahmen zu veröffentlichen. Die Familie des getöteten schwarzen Teenagers, der ein Klappmesser bei sich getragen hatte und in dessen Leiche Spuren der Droge PCP gefunden wurden, hatte im April 2015 mit Zustimmung des Stadtrats fünf Millionen Dollar erhalten. Im Gegenzug verzichteten die Angehörigen auf eine Klage. McDonalds Familie hatte sich gegen die Veröffentlichung des sechsminütigen Videos ausgesprochen.

Journalisten wie Carol Marin von der Chicago Tribune stellen noch einen anderen Zusammenhang her: Bürgermeister Rahm Emanuel, der erste Büroleiter von Barack Obama im Weißen Haus, kämpfte bis Anfang April um seine Wiederwahl. Kritiker vermuten, dass sich der Demokrat Emanuel weder mit der mächtigen Polizeigewerkschaft anlegen noch die vielen Afroamerikaner (33 Prozent der Einwohner Chicagos sind schwarz) verärgern wollte.

Enthüllt wurde der mutmaßliche Mord durch einen anonymen Tippgeber aus der Stadtverwaltung Chicagos: Er oder sie teilte dem freien Journalisten Jamie Kalven und dem Juraprofessor Craig Futterman mit, dass das Polizeivideo die Darstellung von der Bedrohung der Beamten widerlege. Daraufhin klagten die beiden mit einem weiteren Journalisten per "Freedom of Information Act" auf Freigabe des Materials und waren schließlich erfolgreich.

Ein Richter namens Franklin Valderrama ordnete an, dass die Öffentlichkeit ein Recht habe, dieses zu sehen. Erst danach erfolgte auch die Mordanklage gegen den Polizisten Jason Van Dyke. Hartnäckig hält sich in Chicago zudem das Gerücht, dass Polizeibeamte das Material von Überwachungskameras eines Fast-Food-Restaurants zerstört hätten.

Der schlechte Ruf des Chicago Police Department

Jason Van Dyke ist der erste Polizist in 35 Jahren, der in Chicago wegen Mordes angeklagt wird. Er stellte sich am Dienstag den Behörden - ihm drohen zwischen 20 Jahren Gefängnis und lebenslanger Haft. Unter den Polizisten des Chicago Police Department (CPD) gilt offenbar ein Code des Schweigens: Von den sieben anderen Beamten, die am 20. Oktober am Tatort waren, bestritt keiner Van Dykes Behauptung, der schwarze Teenager habe ihn bedroht.

Laut New York Times hat die Stadt im vergangenen Jahrzehnt mehr als 500 Millionen Dollar ausgegeben, um Bürger zu entschädigen, die sich über Fehlverhalten beschwerten. Die Website "Invisible Institute" des Journalisten Jamie Kalven, an die sich der Whistleblower wandte, dokumentiert mehr als 56 000 Beschwerden gegen das CPD. Ihren Daten zufolge hatten nur zwei Prozent der Eingaben, die seit 2011 eingingen, disziplinarische Folgen.

Chicago, die Heimatstadt von US-Präsident Barack Obama erlebt seit Jahren in einigen Vierteln eine Welle der Gewalt. Allein in diesem Jahr wurden bereits 427 Morde registriert. Die Aktivisten von Black Lives Matter, jener Bürgerrechtsgruppe, die nach den Protesten in Ferguson entstanden war, sind weiterhin in mehreren Städten aktiv. Sie demonstrieren seit Tagen in Minneapolis, wo Mitte November ein schwarzer Mann von einem Polizisten erschossen wurde.

Sie erinnern auch daran, dass es auf den Tag genau ein Jahr her ist, als eine Grand Jury entschied, den Todesschützen im Fall Michael Brown nicht anzuklagen.

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