Österreich:Grasgeflüster

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Grufties, Geisterjäger und ein tapferer Priester: zu Besuch auf dem sehr besonderen "Friedhof der Namenlosen" in Wien, auf dem mehrere Hundert in der Donau ertrunkene Menschen ihre letzte Ruhe fanden.

Von Martin Zips

Die Reise zum Tod beginnt in der Buslinie 76A. Es ist ein trostloser Weg durch das Industriegebiet Simmerings, weit entfernt von der prächtigen Wiener Innenstadt. Die Fahrt führt vorbei an grauen Schornsteinschloten, einem Tierkrematorium, dem "Beschussamt" sowie vom Regen völlig aufgeweichten Plakaten zur österreichischen Nationalratswahl. Ein Zeichen? "Von hier aus sind es nur noch etwa 500 Meter zu Fuß", sagt der Busfahrer lachend und schließt schnell die Tür. Aber in welche Richtung? Weder ein armamputierter Jogger, noch ein Erntehelfer haben vom "Friedhof der Namenlosen" jemals etwas gehört. Sie lachen nur, wenn man sie fragt. Die Österreicher und der Tod, das war schon immer etwas sehr Eigenes.

Endlich, unten am Donauhafen, wo Arbeiter gerade riesige Teile einer Windkraftanlage auf ein Schiff verladen, findet sich das Schild. Hier, hinter einem künstlich aufgeschütteten Erdhügel, liegen Hunderte von Toten, die die Donau jahrhundertelang ausgespuckt hat. Wasserleichen, für die es lange kein Kreuz, keinen Kranz und keine Kerze gab.

Als der Totengräber nicht mehr konnte, nahm der Polizist die Schaufel in die Hand

Das war erst der Verdienst von Josef Fuchs, der in den 1930er-Jahren Gemeinde-Gendarm im einstigen Fischerdorf Albern war. Fuchs, so erzählt sein Enkel, habe als Jugendlicher in den Auenwäldern einmal ein totes Neugeborenes in einer Schachtel gefunden und es anschließend auf dem schmucklosen, wilden Friedhof der Namenlosen am Hafen bestattet. Daraus sei eine lebenslange Geschichte geworden. Jahre später sei Fuchs als Polizist dann oft mit dabei gewesen, wenn Ertrunkene mit Schubkarren in die Totenkammer gebracht wurden. Tote, um deren Bestattung sich weder Familienmitglieder, noch die Kirche kümmerten. Wer seinem Leben aus Not und Verzweiflung freiwillig ein Ende setze, so hieß es ja lange, verstoße gegen Gottes Gebot und habe auf einem christlichen Friedhof nichts zu suchen. Bis heute hat nur die mehr als 80 Jahre alte Einsegnungskapelle am Eingang des Gräberfelds den kirchlichen Segen. Für den Friedhof selbst ist die Hafenverwaltung zuständig.

Fast 600 Menschen wurden auf dem ursprünglich zweigeteilten „Friedhof der Namenlosen“ beerdigt. Doch auch schon in früheren Jahrhunderten dürften an dieser Stelle zahlreiche Wasserleichen angespült worden sein (Foto: Mauritius)

Lange waren es vor allem Jäger und Donaufischer, die die Leichen hier bargen. Der Dorfpolizist meldete den Fund, der Totengräber übernahm die Bestattung. Als eines Tages aber auch der Sohn des Totengräbers nicht weit entfernt vom Friedhof tot gefunden wurde, da wollte der Mann nicht mehr. Also nahm Polizist Fuchs fortan die Schaufel in die Hand, bettelte bei Tischlern um Holzsärge und bei Blumenhändlern um Kränze. Aus russischer Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt, richtete er die vom Hochwasser und Plünderern beschädigten Gräber wieder her und schmückte sie mit vom Wiener Zentralfriedhof aussortierten, gusseisernen Kreuzen.

"Schon als Kind war ich ständig mit dem Opa hier", sagt Josef Fuchs, sein Enkel. Heute findet sich der Ort als Geheimtipp in fast jedem Wien-Reiseführer. Fuchs junior, 57, ein in Würde ergrauter Langhaariger, zeigt auf die frisch geschmückten Gräber der Namenlosen mit ihren leuchtenden Kerzen und blühenden Blumen. "Der Friedhof, das ist Opas Lebenswerk. Später hat sich mein Vater drum gekümmert. Aber der ist jetzt auch zu alt. Also haben meine Frau und ich die ehrenamtliche Arbeit übernommen."

Josef Fuchs junior mit seiner Frau Rositta kümmert sich um das Gräberfeld. (Foto: Martin Zips)

Am 1. November wird Josef Fuchs junior wie jedes Jahr zur Allerheiligen-Messe in der Friedhofskapelle die Glocke läuten. Das mache er, sagt der mit der Floristin Rositta verheiratete Technische Angestellte, obwohl er längst aus der Kirche ausgetreten sei. Er mache das für die etwa 600 Menschen, die hier beerdigt wurden - zum Beispiel den Jungen dort ("ertrunken durch fremde Hand am 1. Juni 1904 im elften Lebensjahr", steht am Schild). Oder für die Mutter, deren Sohn sich später auf ihrem Grab erschossen haben soll. Und natürlich macht er es für den Opa. Josef Fuchs, der Gemeindepolizist, pflegte den Friedhof bis er 1996 im Alter von 90 Jahren starb. Dass die Fläche heute unter Denkmalschutz steht und noch nicht der Hafenerweiterung zum Opfer fiel, ist ihm zu verdanken.

"Mit der Totenruhe hier aber ist es schon so eine Sache", sagt Fuchs junior zwischen den Gräbern, und erzählt von nächtlichen Saufgelagen der Vorstadtjugend im Sommer oder seinen Begegnungen mit Gruftis in der herbstlichen Dämmerung. Die einen kämen, weil sie die Geister spüren und die anderen, um zu beweisen, dass das ein Blödsinn ist. "I holt mi da aussi", sagt Fuchs junior. "Seit mehr als 50 Jahren hab' ich keinen einzigen Geist gespürt."

Gleich neben dem Messwein steht die Dose mit Insektengift

Die letzte Bestattung auf dem Friedhof der Namenlosen liegt schon mehr als 70 Jahre zurück. Der Umbau des Hafens und der Bau eines Kraftwerks sorgen dafür, dass die Toten von der Donau weiter getragen werden. In Richtung Ungarn. Zudem dürfen die Leichen, seitdem Albern zu Wien gehört, nur noch am Zentralfriedhof beerdigt werden. Doch auch in diesem Jahr wird an Allerheiligen Pater Silvio Crosina wieder die Messe in der Kapelle lesen. Der ehemalige Scherenschleifer aus Trentino hat als junger Mann den Friedhof immer wieder mit seinem Vater besucht - "auf dem Weg in die Gastwirtschaft, die es damals noch direkt daneben gab". Mit 29 Jahren beschloss Silvio, Priester zu werden. Und weil er ausgerechnet in der Gemeinde Kaplan wurde, zu der der Friedhof gehört und sich auch mit dem Polizisten Fuchs und dessen Familie anfreundete, ist ihm seit 35 Jahren die Messe für die Namenlosen eine Herzensangelegenheit. Immer wieder schwappt das Hochwasser durch die Gräber-Reihen. Ganz so, als fordere die Donau ihre Verstorbenen zurück. Doch Pater Silvio kämpft tapfer dagegen an. Mit einem Heizstrahler, der die Wände in der Sakristei trocknet. Mit Tupperware-Dosen, in denen die Hostien bis zur Kommunion trocken bleiben. Sein Altar wird von zwei Schreibtischlampen aus dem Baumarkt beleuchtet, die Musik kommt vom CD-Spieler. In der Dunkelheit muss er schon darauf achten, dass er den Messwein (Oppenheimer Krötenbrunnen, Spätlese) nicht mit dem direkt daneben stehenden Insektengift verwechselt.

Frische Kränze werden von der Floristenschule als Spende geliefert. Die gusseisernen Kreuze hatte Josef Fuchs senior einst auf dem Zentralfriedhof organisiert. (Foto: Martin Zips)

Mittlerweile zelebriert Silvio, 72, nicht nur die jährliche Allerheiligen-Messe, sondern darf auch ein paar Tage später mit dabei sein, wenn der (sehr sozialistisch geprägte) Arbeiterfischereiverein für die Toten wie jedes Jahr einen schwimmenden Gedenkkranz auf der Donau wässert. Seit vier Jahren gibt es sogar jeden ersten Sonntag im Monat eine Messe für die Namenlosen. "Die ist so gut besucht, dass die Leute bis nach draußen stehen", sagt Josef Fuchs junior. "Da ist es doch Ehrensache, dass ich die Glocke läute."

"Entschuldigen Sie", sagt plötzlich ein Mann, der sich von hinten nähert und mit "Geistler" vorstellt. "Darf ich ihnen rasch meine Visitenkarte geben?" Auf der Karte steht was von "Hilfe bei Spuk" und "Reinigung von Objekten". Zusammen mit seinen zwei Kollegen, die ebenso wie er schreiend gelbe Gummijacken tragen, sei er hier auf der Suche nach paranormalen Phänomenen, eine Arbeit, die völlig zu Unrecht keine finanzielle Förderung vom Staat erhalte. Dann packt Herr Geistler zusammen mit seinem Team Stative, Kameras und Messgeräte aus und empfiehlt sich in Richtung Totenkammer.

Die Österreicher und der Tod. Das war schon immer etwas sehr Eigenes.

© SZ vom 10.10.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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