Niedersachsen:Teures Pflaster

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Wenn Gemeinden neue Straßen bauen, können sie Grundbesitzer in der Nachbarschaft zur Kasse bitten. Das Ehepaar Henne aus Niedersachsen kann die umstrittene Regelung in den finanziellen Ruin stürzen.

Von Thomas Hahn

Auf der Terrasse der Eheleute Henne in Scheden, Südniedersachsen, sitzen drei Nachbarn und lästern über das, was vor ihren Haustüren entstanden ist. Der Rentner Horst Henne, der Fernmeldehandwerker Dieter Müller und der Ingenieur Carsten Meier fanden es ja im Grunde nicht schlecht, dass die Gemeinde die Stichstraßen befestigen wollte, an denen sie wohnen, auch wenn die holprige Gartenstraße und der Feldweg Am Abendhaufen kaum befahren waren. Aber mittlerweile sind die Pflasterstein-Passagen fertig, und die Anrainer finden die neuen Straßen viel zu breit für ihre Zwecke. "Ein Boulevard", spottet Horst Henne. Verschwenderisch kamen den Männern die Bauarbeiten vor, und sie rätseln über die milchige Brühe, die den Boden des neuen Regenwasser-Rückhaltebeckens bedeckt.

"Was meinen Se, was das alles gekostet hat?", sagt Henne. Nicht wenig, und das kann ihm nicht egal sein. Denn 90 Prozent der Kosten leitet die Gemeinde an ihn und die anderen Anrainer weiter. Über 17 000 Euro hat Meier zahlen müssen, knapp 12 000 Müller, und die Hennes bekamen eine Rechnung von über 9000 Euro.

"Das gibt's doch nicht", sagen Gäste, denen sie das erzählen, aber die Wahrheit ist: Doch, das gibt's.

Das Kommunalabgabengesetz macht es möglich, dass Gemeinden Grundbesitzer je nach Grundstücksgröße und zulässiger Geschosshöhe beim Straßenausbau zur Kasse bitten. Im ganzen Bundesgebiet gibt es Initiativen gegen das Gesetz, der Allgemeine Verein für gerechte Kommunalabgaben in Deutschland (AVgKD) schätzt, dass über zwei Millionen Deutsche ihren Protest organisiert haben. Gerade in den klammen Gemeinden der Provinz findet man viele Bürger, die sich abkassiert fühlen. Und es werden nicht weniger. Denn die Straßen in Deutschland sind in die Jahre gekommen.

Der maßgebliche Experte zum Kommunalabgabenrecht in Deutschland ist Hans-Joachim Driehaus, 74, bis 2005 Vorsitzender Richter am Bundesverwaltungsgericht. Er erklärt die Rechtslage gern, er tut dies mit juristischen Wortungetümen und Sympathie für die Regelungen der Straßenbaubeiträge, die es seit dem preußischen Kommunalabgabengesetz von 1893 gibt. Driehaus findet: "Sie haben sich in der über 100-jährigen Praxis bewährt." Sie gehen davon aus, dass die Kommunen ihre Infrastruktur-Maßnahmen so finanzieren müssen, dass jene damit belastet werden, die am meisten davon profitieren. Und das sind - laut Driehaus "zweifelsfrei" - die Eigentümer der Grundstücke an einer ausgebauten Straße.

Die Stichstraße in Scheden vor ihrer Befestigung. (Foto: Dieter Müller)

Laut Gemeindeordnung beziehungsweise Kommunalverfassungsgesetz des jeweiligen Bundeslandes gelten zudem die "haushaltsrechtlichen Einnahmebeschaffungsgrundsätze", wonach Kommunen Straßenbau-Projekte überhaupt erst über die Grunderwerbsteuer finanzieren dürfen, wenn die Projekte nicht über Beiträge oder Gebühren zu stemmen sind. Und wenn jemand nicht zahlen kann, weil eben nicht jeder jederzeit fünfstellige Summen zur Hand hat? Für soziale Härtefälle gebe es Billigkeitsregelungen, sagt Driehaus: Möglichkeiten zur Stundung, zur Ratenzahlung, zur Not könne eine Gemeinde die Kosten dem Anrainer sogar erlassen.

In der Praxis führt das Gesetz zu Bitterkeit und sozialen Härten. Erst spät realisierten die Schedener, dass die Gemeinde ihre Straßen nicht nur für sie als aktuelle Anrainer baute, sondern auch für Grundstücke im Rahmen eines neuen Bebauungsplans. Als sie das Ausmaß erkannten, versuchten sie sich mit einer Unterschriftenliste dagegen zu wehren. Vergebens, im September 2014 kamen die Rechnungen. Dieter Müller traute seinen Augen nicht, als er den Bescheid über 11 866,76 Euro sah. Er nahm einen Kredit auf. Auch Familienvater Meier schluckte. Und die Hennes konnten nicht zahlen.

Horst Henne, 63, einst Fahrer im internationalen Fernverkehr, ist ein Mann von zupackender Herzlichkeit, der nicht zum Jammern neigt. Aber er kann schlecht den Umstand wegreden, dass er Parkinson hat und 1202 Euro Monatsrente. Seine Frau Susanne, 56, früher Reinigungskraft, hat zwei Kinder großgezogen sowie Eltern und Schwiegervater bis zu deren Tode gepflegt. Jetzt ist der Rücken kaputt, ihr monatliches Krankengeld beträgt 560 Euro. Das Ersparte haben sie verbraucht, um das Haus behindertengerecht umzubauen. Der Bescheid über 9099,35 Euro überforderte sie. Henne ging zum Anwalt, der bat um Rücknahme des Bescheids. Die Gemeinde antwortete in Fettdruck und Beamtendeutsch: "Eine Rücknahme des Heranziehungsbescheides zur Vorausleistung für den Erschließungsbeitrag für die Erschließungsanlage Gartenstraße und Am Abendhaufen ist nicht möglich." Immerhin dürfen die Hennes die Summe in Monatsraten von 100 Euro begleichen.

Und danach. Anwohner nennen sie spöttisch "Boulevard". (Foto: Dieter Müller)

Schedens Bürgermeisterin Ingrid Rüngeling weist die Kritik der Anwohner zurück. Die Planungen seien einsehbar gewesen, die neuen Straßen seien auch nicht zu breit. Eine Unterschriftenliste gegen den Ausbau sei ihr nicht bekannt. Und sie verweist auf die Rechtslage: "Auch bei bester Finanzlage hätte so aufgrund der gesetzlichen und satzungsmäßigen Vorschriften abgerechnet werden müssen."

Keine Klage, keine Petition ist bisher gegen das Kommunalabgabengesetz angekommen. Die Gegner arbeiten daran, sie wollen das Argument kippen, wonach Grundstücksbesitzer einen Vorteil dadurch hätten, dass die Straße vor ihrem Grund erneuert wird. Die Gesellschaft habe sich seit 1893 geändert, sagen sie, befestigte Straßen zu nutzen, sei damals ein Privileg der Reichen gewesen. Heute gebe es die Straßenbenutzungspflicht für jedermann. "Der Profit liegt auf den Schultern der Allgemeinheit schlechthin", sagt der AVgKD-Vertreter Harald Beckmann, "diese Tatsache wurde von den Verwaltungsrechtlern bisher außer Acht gelassen."

Die Schedener von der Ecke Gartenstraße/Am Abendhaufen warten auf die nächste Rechnung. Denn die kommt bestimmt, auch wenn noch unklar ist, wie viel die Befestigung insgesamt kostet. "Bei dem angeforderten Vorausleistungsbeitrag handelt es sich um 50 Prozent des voraussichtlichen Erschließungsbeitrages", heißt es in Dieter Müllers Rechnung über 11866,76 Euro. Er wird mindestens die gleiche Summe noch mal zahlen müssen, und Müller lächelt kraftlos, wenn man sagt, dass das bei seinem Millionengehalt als Fernmeldehandwerker doch sicher kein Problem sei.

© SZ vom 08.08.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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