Nach dem Amoklauf von Winnenden:Polizei räumt Ermittlungspanne ein

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Brisante Ermittlungsergebnisse, leider falsch: Der Amokläufer Tim K. hat seine Bluttat offenbar nicht an seinem Heimcomputer angekündigt. Die Polizei sucht nun nach einem Laptop - und Innenminister Rech kämpft um seinen Ruf.

Nach dem Amoklauf von Winnenden mit 16 Toten arbeitet die Polizei fieberhaft an der Klärung der Hintergründe - und muss sich nun auch mit einer offenbar schweren Panne bei den Ermittlungen befassen. Denn entgegen ersten Angaben fand sie keine Hinweise darauf, dass der 17-jährige Täter im Internet eine Ankündigung der Bluttat verfasst hatte. Im Laufe des Tages seien erhebliche Zweifel an der Echtheit des Chat-Eintrags aufgetreten, erklärten die Waiblinger Polizei und Staatsanwaltschaft in Stuttgart.

Entsetzen, Fassungslosigkeit, Trauer in Winnenden (Foto: Foto: ddp)

Der baden-württembergische Innenminister Heribert Rech (CDU) hatte zuvor noch von angeblich eindeutigen Beweisen dafür gesprochen, dass Tim K. sein Vorhaben im Netz angekündigt habe. Ein 17-jähriger Junge aus Bayern, dessen Vater sich nach der Tat am Mittwochabend bei der Polizei meldete, habe den Eintrag gesehen, der demnach gegen 02.45 Uhr am Mittwochmorgen in dem Chat aufgetaucht sei. Am späten Abend dann das Dementi: Auf dem Computer von Tim K. wurden doch keine Beweise dafür gefunden, dass der Eintrag von ihm stammt.

Trotzdem überprüfen die Ermittler, ob der Todesschütze Tim K. seine Tat von einem bisher unbekannten Computer aus in einem Internet-Chat angekündigt hat. Sie wollten auch Zeugen vernehmen, die den vermeintlichen Eintrag gesehen haben wollen. Es sei nicht auszuschließen, dass Tim K. die Ankündigung von einem anderen Computer abgesetzt habe, sagte eine Polizeisprecherin. "Ob der Täter ein Laptop hatte, wissen wir noch nicht." Nach Angaben der Staatsanwaltschaft Stuttgart besteht auch die Möglichkeit, dass der Todesschütze seine Tat vom Computer eines Freundes oder von einem Internetcafé aus versendet hat.

Rech: "Irgendein Verrückter hat wohl eine Falschmeldung in die Welt gesetzt"

Wie es zu dem Fehler kommen konnte, müsse noch geklärt werden, hieß es bei der Polizei. Möglicherweise habe es sich um einen Übermittlungsfehler bei den Untersuchungen gehandelt. Rech wies noch am Abend Kritik zurück, die Ermittlungsbehörden hätten sich zu früh auf die Echtheit des Eintrages festgelegt. "Ich habe stets deutlich gemacht, dass es sich um den vorläufigen Stand der Ermittlungen handelt. Es muss nun geklärt werden, wie der Vater eines 17-Jährigen behaupten konnte, er habe den Eintrag vor der Tat gesehen", sagte er am späten Abend der Süddeutschen Zeitung.

"Irgendein Verrückter hat wohl eine schlimme Falschmeldung in die Welt gesetzt", so Rech weiter. Die Ermittler der Polizei hätten auf dem Computer von Tim K. festgestellt, dass der Forum-Eintrag nicht von dort verfasst wurde. "Das muss wohl im nachhinein konstruiert worden sein", sagte Rech.

Familien und Freunde trauern

Nach der Erklärung des Onlinechat-Betreibers, die Ankündigung sei eine Fälschung, hätten die Behörden bei dem Betreiber des Servers in den USA angefragt, ob es den Eintrag gegeben habe, teilte die Polizei mit. Sie habe aber noch immer zwei Zeugen, die unabhängig voneinander behauptet hätten, den Eintrag im Internetchat gesehen zu haben - diese sollen nun vernommen werden.

Die Südwest-SPD hat die Ermittlungspanne nach dem Amoklauf von Winnenden als "peinlich" gerügt. "Hier geht Genauigkeit vor Schnelligkeit. Man muss nicht immer mit sekundenschnellen Botschaften an die Öffentlichkeit gehen", sagte SPD-Landtagsfraktionschef Claus Schmiedel.

Derweil liegt das Motiv für den Amoklauf weiter im Dunkeln. Nach Erkenntnissen der Polizei hatte Tim K. die psychiatrische Behandlung einer depressiven Störung vorzeitig abgebrochen. Seine Freizeit habe der 17-Jährige mit Killerspielen und Horrorfilmen verbracht.

Am Donnerstagabend nahmen die Familien der Opfer Abschied. Die Toten waren in einem Krankenhaus aufgebahrt, Zugang hatten nur Angehörige. Zugleich gedachten mehr als tausend Trauernde bei einem ökumenischen Gedenkgottesdienst in Winnenden der Toten. Die Schlosskirche war so überfüllt, dass viele den Gottesdienst im Freien auf Leinwänden verfolgen mussten. "In solchen Stunden fehlen uns Worte, erst recht fehlen uns Antworten", sagte der katholische Bischof von Rottenburg-Stuttgart, Gebhard Fürst. Schüler zündeten Kerzen an, viele hatten Tränen in den Augen.

"Der Weg der Trauer beginnt erst, es ist ein langer Weg", sagte der evangelische Pfarrer Winfried Mayer-Revoredo. Der Solidarität der Worte müsse nun eine Solidarität der Taten folgen. "Alle zusammen können wir das Leid nicht rückgängig machen, aber wir können helfen, dass die Angehörigen mit dem Leid leben können", sagte er. Der Heilbronner Prälat Hans-Dieter Wille erklärte, man denke auch an die Eltern des Amokläufers und an ihn selbst, "der nicht wusste, was er tat". Sein Tod sei "eine Mahnung, in unseren Familien, in unseren Schulen mehr Acht auf uns zu haben".

© sueddeutsche.de/dpa/AP/Reuters/AFP/ihe/vw - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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