Nach dem Amoklauf:Spuren der Verzweiflung

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Depressionen, Mobbing und ein finsterer Spruch im Internet - am Tag danach zeichnen sich klarere Konturen des Amok-Täters ab. Immer drängender wird die Frage, warum niemand bemerkte, wohin der 17-Jährige steuerte. Trost finden wird in Winnenden so bald keiner.

Sebastian Beck u. Bernd Dörries, Winnenden

Es ist genau 2.45 Uhr in der Nacht auf Mittwoch, als Tim K. das Massaker im Internet ankündigt. Er sitzt allein zu Hause in seinem Zimmer, allein mit seinem fürchterlichen Plan, die Eltern und seine jüngere Schwester schlafen längst. Sechs Stunden noch, dann wird er in den Bus nach Winnenden steigen, mit der Pistole seines Vaters und gut zweihundert Schuss Munition.

Eine Stadt, schwer gezeichnet von der Schreckenstat: Eine Frau entzündet in Winnenden vor der Albertville Realschule eine Kerze. (Foto: Foto: AP)

Er wird zur Albertville-Realschule fahren und auf jeden schießen, der sich ihm in den Weg stellt. Am Mittag werden er und 15 weitere Menschen tot sein. Die Nachricht von seinem Amoklauf wird um die Welt gehen, und überall wird nur die eine Frage gestellt werden: Warum nur hat er das getan?

In dieser Nacht also sitzt Tim vor seinem Computer und schreibt in einem der Chatrooms für Jugendliche: "Scheiße Bernd, es reicht mir, ich habe dieses Lotterleben satt, immer dasselbe, alle lachen mich aus, niemand erkennt mein Potential. Ich meine es ernst Bernd - ich habe Waffen hier und ich werde morgen früh an meine frühere Schule gehen und mal so richtig gepflegt grillen. Vielleicht komme ich ja auch davon. Haltet die Ohren offen. Bernd, ihr werdet morgen von mir hören. Merkt euch nur den Namen des Orts: Winnenden. Und jetzt keine Meldung an die Polizei; keine Angst, ich trolle nur."

Irgendwo in Bayern sitzt um diese Zeit ebenfalls noch ein Schüler am Computer, liest die Botschaft und antwortet nur mit einem Kürzel aus drei Buchstaben: "lol" - was im Internetjargon so viel heißt wie: Ich lache nur über deinen Scherz. Erst als er am nächsten Tag von der Tat in Winnenden hört, weiß er, dass es kein Scherz war, sondern Ernst: Sein Vater informiert die Polizei über die nächtliche Unterhaltung am Computer im Spaßforum mit dem Namen "Krautchat", die irgendwo auf einem Server in den USA gespeichert ist.

Baden-Württembergs Innenminister Heribert Rech verkündet am Donnerstag diese und weitere Ergebnisse der Ermittlungen. Sie geben Einblick in die dunkle Gedankenwelt des jungen Täters. Jetzt steht auch fest: Er litt unter Depressionen. Bei der Durchsuchung des Elternhauses wurde in seinem Zimmer der Bescheid für den Wehrdienst gefunden. Daraus geht hervor, dass Tim im vergangenen Jahr über einen längeren Zeitraum wegen seiner psychischen Erkrankung in stationärer Behandlung war. Nach seiner Entlassung sollte er in der psychiatrischen Klinik von Winnenden weiter ambulant betreut werden - also in genau jenem Krankenhaus neben der Realschule, vor dem er auf seiner Flucht noch einen Mann tötete. Aber er hat sich nicht mehr gemeldet dort.

Tim, das steht nun auch fest, war den Umgang mit Schusswaffen gewohnt: Sein Vater ist Mitglied im Schützenverein in Leutenbach. Daheim im Waffenschrank verwahrte er nach Angaben der Polizei zehn Gewehre und zwei Revolver unterschiedlicher Kaliber. Die Tatwaffe lag offenbar ungesichert im Schlafzimmer. Es soll sogar einen Schießstand im Keller des Hauses gegeben haben.

Auf der nächsten Seite: Der Amokschütze hat offenbar in zwei getrennten Welten gelebt.

Amoklauf
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Entsetzen, Fassungslosigkeit und die Frage nach dem Warum: In einer Realschule im schwäbischen Winnenden tötet ein jugendlicher Amokläufer 16 Menschen - darunter neun Schüler.

Insgesamt 4600 Schuss Munition stellte die Kripo im Elternhaus sicher, möglicherweise sei Tim irgendwie an die Zahlenkombination für den Tresor herangekommen, sagt Rech. In seinem Zimmer fand man Softair-Pistolen an der Wand. Das Schießen lernte er zusammen mit seinem Vater auch im einen Kilometer entfernten Schützenhaus in Leutenhausen, wo er gelegentlich als sogenannter Gastschütze üben durfte. Die Wirtin des Vereinslokals beschreibt ihn als unauffällig, ruhig und lieb.

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"Er war nie aggressiv"

Er hat offenbar in zwei getrennten Welten gelebt, der Amokschütze von Winnenden. Nach außen hin war er ein völlig durchschnittlicher Jugendlicher. Ein bisschen zurückgezogen vielleicht, aber keinesfalls ein erkennbarer Psychopath. Im Verein spielte er Tischtennis, wurde sogar zweimal Bezirksmeister. "Er war nie aggressiv, sondern ruhig", sagt sein früherer Trainer über ihn.

Seit drei Jahren betrieb er auch Kraftsport - wie viele andere Jugendliche in seinem Alter. Im vergangenen Sommer schloss er die Realschule ab, auch hier war er Mittelmaß, unauffällig, mit durchschnittlichen Noten. Zuletzt besuchte Tim ein zweijähriges Berufskolleg in Waiblingen als Vorbereitung für einen kaufmännischen Beruf.

Doch nur die wenigsten Menschen wussten, wie es in ihm aussah. Offenbar litt der Täter an einer gefährlichen Mischung aus Minderwertigkeitsgefühlen und Größenwahn - wie es seine letzten Zeilen im Chatroom andeuten. Zu Hause verbrachte er viele Stunden am Computer. Eine erste Auswertung der Festplatte hat ergeben, dass er darauf Horrorbilder gespeichert hatte, aber laut Ermittlern in keinem großen Umfang. Auch Gewaltspiele wurden auf dem Computer entdeckt, doch selbst das halten Kripo und Staatsanwaltschaft für nichts Außergewöhnliches. Wo doch so viele Jugendlichen ihre Freizeit mit "Counterstrike" und ähnlichen Kriegsspielen verbringen, aber trotzdem nie jemanden töten würden.

Manches also klärt sich am Tag danach, bittere Erkenntnisse sind das und furchtbare Details. Doch viele Fragen bleiben auch offen und manche werden vielleicht nie beantwortet werden in dieser Stadt, die von der Schreckenstat so schwer gezeichnet ist. Man sieht das gleich in Winnenden, die Flaggen hängen auf Halbmast, die vor dem Rathaus und auch die neongelben vor dem Reifenhändler und überall sonst.

Bisher kannte man Winnenden höchstens, weil hier die Firma Kärcher ihren Hauptsitz hat, die mit den gelben Hochdruckreinigern. Nun stehen die Menschen in einer kleinen Schlange vor dem Aushang der örtlichen Zeitung und lesen dort, dass auf der ganzen Welt über sie gesprochen wird. Jeder verarbeitet das Geschehene auf seine Weise. Es gibt die, die sich in die Kirchen zurückziehen und in die Wohnungen, und jene, die es an den Tatort drängt, eine Prozession von Menschen mit Blumen in der Hand.

Vor der Albertville-Schule liegen die Rosen, die Tulpen und ein paar Hyazinthen und was die Blumenwelt des beginnenden Frühjahrs so hergibt. Auf den handgeschriebenen Zetteln ist das große Wieso und Warum verewigt, die Schüler haben ihre Gedanken hingelegt, manchmal sind es mehr Fragezeichen als Buchstaben. Jemand hat eine CD von Xavier Naidoo dazu gelegt: "Abschied nehmen". Vor den Blumen stehen viele, die Tim K. kannten oder dies behaupten. Folgt man ihren Beschreibungen, dann war er tatsächlich einer, der so unauffällig war, dass es auffiel.

Bülent Ö., 16, geht in die achte Klasse der Albertville-Realschule. Er trägt eine Lederjacke, blaue Turnschuhe und hat die Haare mit Gel nach oben gefranst. "Riesenbaby haben viele den Tim genannt, weil er viel größer war als die anderen in seinem Alter", sagt Bülent. Freunde habe der Tim keine gehabt, und Bülent sagt, er habe gehört, dass er oft gemobbt wurde.

Bülent saß gerade in der Deutschstunde, als die Schüsse fielen, er hat die Schreie gehört und ist unter den Tisch gekrochen. Ein Pult weiter saß seine Lehrerin und hat nur geweint. "Alle haben geweint." Er hat die ganze Nacht nicht geschlafen, ist aufgestanden und zur Schule gegangen, an der es heute keinen Unterricht gibt. Jetzt steht er vor dem Tatort und redet die Fragezeichen in seinem Kopf einfach weg.

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Vor dem Eingang der Schule sind immer noch die Männer in den weißen Overalls am Werk, sie bücken sich und messen die Distanz von der Patronenhülse bis zum Einschuss in der Glastür, es ist wohl der Schuss, mit dem alles begann, der erste von 112, die der Täter insgesamt abfeuerte, 60 davon in der Schule. Die ganze Nacht durch haben die Ermittler gezählt und die Tat rekonstruiert.

Um etwa 9.30 Uhr war er in den ersten Stock gestürmt, wo die Klassenzimmer der Schüler liegen, die ihm altersmäßig am nächsten kommen, die er vielleicht kannte, weil er bis zum Sommer 2008 an der Schule war. Er schoss durch Türen und tötete zwei Lehrerinnen, die ihm im Flur begegneten. Von ihnen ist am Donnerstag viel die Rede, es ist die Suche nach ein bisschen Licht in all dem Dunkel, die Frage, ob die Frauen sich in den Weg des Schützen stellten. Das sei anzunehmen, aber nicht zu beweisen, sagen die Ermittler.

Es sind elf Frauen und Mädchen gestorben in der Schule, vor der jetzt Bülent steht und sagt, der Tim habe nie eine Freundin gehabt und einen Hass auf Frauen. Der ermittelnde Staatsanwalt Siegfried Mahler sagt, das seien bisher nur Spekulationen, man könne aber sagen, dass Tim "interimsweise eine kleine Freundschaft hatte".

Es klingt, als wollte man im Amtsdeutsch eine Abfuhr erklären. Ein Freund aus Tims Realschulklasse erzählt, er sei verliebt gewesen in ein Mädchen aus der Nachbarschaft. An Silvester habe er sie angerufen und ihr seine Liebe gestanden. Doch sie und ihre Freunde auf einer Party hätten alle nur laut gelacht.

"Soll ich die in den Autos auch erschießen?"

Die Schießerei dauerte nur wenige Minuten, dann trafen die ersten Polizisten ein. Tim K. schoss auf sie und rannte aus der Schule. Sein Weg führte ihn in jene Klinik, die er kannte. Am Mittwoch kam er nicht, um sich helfen zu lassen, sondern um auch hier zu töten. Der große Garten der Anlage ist am Donnerstag wahrscheinlich der ruhigste Ort in Winnenden. Unten am kleinen Teich sind mit blauer Sprayfarbe die Umrisse des Mitarbeiters der Klinikschlosserei aufgesprüht, den K. hier erschoss. Das Gras ist noch voller Blut, in vier Wochen sollte der Mann in Pension gehen, flüstern ein paar Schwestern.

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Er war der 13. Tote des Amoklaufs von Winnenden. Danach suchte er sich einen 41-jährigen Mann aus, der auf einem Parkplatz in seinem VW wartete. Der Flüchtende zwang ihn loszufahren, durch den ganzen Großraum Stuttgart. Der Begriff Höllenfahrt trifft es ganz gut. Einmal auf der Autobahn, als sie im Stau standen, sagte der Junge zu seinem Opfer: "Wie wäre es, soll ich die in den Autos auch erschießen?"

Die Geisel redete auf ihn ein und brachte ihn davon ab. Wenig später sah der Fahrer einen Polizeiwagen am Straßenrand, gab Gas, fuhr in einen Erdhügel und rollte sich aus dem Auto. Es begann nun die letzte Etappe im Amoklauf und im Leben des 17-Jährigen, die man zum Teil auch auf einem verwackelten Video sehen kann. Er stürmt ein VW-Autohaus, verlangt nach Autoschlüsseln, tötet einen Verkäufer und einen Kunden - und schließlich, nach einem letzten Schusswechsel, bei dem er am Bein getroffen wird, auch sich selbst. Ein Mitarbeiter einer angrenzenden Firma soll es auf seinem Fotohandy gefilmt haben.

Acht Stunden später kommen etwa tausend Bürger aus Winnenden zu einem ökumenischen Trauergottesdienst in die katholische Kirche. Ein karger Raum, hinter dem Altar eine kleine Mauer, gelb und orangefarben. Die Menschen sitzen auf dem Boden und auf den Stufen zum Altar. Man möge den Mittelgang freihalten, falls jemand umkippe, sagt der Pfarrer am Anfang, und etwas später kippen die Ersten um. "Der Tod hat Einzug gehalten in hässlicher und brutaler Form hier in Winnenden", sagt der evangelische Landesbischof Frank Otfried July.

Er habe in die Gesichter derer geblickt, die schwere Schläge empfangen haben. "Man kann nur erahnen, was dort in ihrem Inneren geschieht", sagte der Bischof. Dem dürfe man nicht ausweichen, "es sind noch viele Fragezeichen unter uns". Letztlich sei es die Frage nach Gott. Ganz zum Schluss noch sagt einer der Geistlichen, man müsse auch um das bitten, was er sich kaum zu denken, kaum auszusprechen traut: um Barmherzigkeit für den Täter. Die Kirche ist sehr voll, und doch ist es ganz still, es hustet nicht einmal jemand.

Trauer, eine ganz fassungslose Traurigkeit, herrscht auch in Weiler zum Stein. Hier hat nicht nur der Täter gewohnt, auch mehrere seiner Opfer stammen aus dem Dorf. Bis Mittwoch hat Herbert Bayer noch gedacht, er wohne auf dem Dorf der Glückseligen, wie er sagt. So überschaubar, so geordnet, so klein. Jetzt sitzt er in seiner Gastwirtschaft und sucht nach Erklärungen. Die Stühle stehen an diesem Morgen noch auf den Tischen, es riecht nach kaltem Rauch. Es ist der Tag eins der neuen Zeitrechnung hier.

"Eine ganz normale Familie"

Bayer kennt sie alle. Mehrmals im Jahr ist Tims Familie in seiner Gaststätte zum Essen gewesen. Sie haben sich geduzt, wie viele hier, sie haben sich gegrüßt und miteinander geschwatzt. Doch was hat er schon gewusst von ihnen? Die Mutter ist mit ihrer Freundin regelmäßig zum Joggen gegangen, der Vater ist jeden Tag mit dem Auto zur Arbeit ins benachbarte Affalterbach gefahren, wo er ein Unternehmen leitet, das Verpackungen herstellt.

"Das ist eine ganz normale Familie gewesen, nur mit dem Unterschied, dass die halt ein bisschen mehr Geld gehabt haben." Bayer redet nur noch in der Vergangenheitsform von der Familie - als ob am Mittwoch nicht nur Tim gestorben wäre, sondern auch seine Eltern und seine Schwester: "Ich glaube, dass es gegen sie Anfeindungen geben wird", sagt er. "Man wird auf sie zeigen." Denn noch in Jahrzehnten, befürchtet er, werde das Dorf unter dem Stigma leiden, dass der Amokschütze von hier stammt.

Die Familie ist noch am Mittwoch fortgegangen aus Weiler zum Stein. Wo sie jetzt steckt, will die Polizei nicht sagen. Sie wollten in Ruhe gelassen werden, heißt es. Dabei gibt es noch so viele Fragen, die nur Tims Vater beantworten könnte: zum Beispiel die, warum er eine Waffe im Schlafzimmer liegen ließ, obwohl er doch wusste, dass sein Sohn psychisch krank war. Gegen den Vater, der seinem Sohn im Schützenheim das Schießen beibrachte, werde nicht ermittelt, sagt Staatsanwalt Siegfried Mahler. Wenn überhaupt, dann habe er sich einer Ordnungswidrigkeit schuldig gemacht.

Am Donnerstag steht nur ein Polizeiwagen vor dem Zuhause der Familie. Die Spurensicherung ist längst abgezogen, dafür belagern jetzt Kamerateams das Haus. Doch es gibt hier nichts mehr zu sehen. Im Grunde genommen hat es hier auch am Mittwoch nichts anderes zu sehen gegeben als ein ganz normales Durchschnittshaus in einem deutschen Durchschnittsdorf. Es könnte überall passiert sein.

© SZ vom 13.03.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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