Mysteriöser Mehrfachmord in den französischen Alpen:Mädchen kauert stundenlang unter Erschossenen

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Eine Vierjährige soll still unter den Beinen ihrer toten Mutter ausgeharrt haben: Erst Stunden nach dem Fund von vier Leichen auf einem Parkplatz in den französischen Alpen hat die Polizei das Mädchen geborgen. Bei den Toten handelt es sich vermutlich um die Eltern und die Großmutter des Kindes - dem vierten Opfer wurde wohl ein Zufall zum Verhängnis.

Ganz still harrte sie auf dem Rücksitz eines Autos aus - unter den leblosen Körpern von zwei Erschossenen. Mehr als acht Stunden nachdem auf einem Waldparkplatz in den französischen Alpen die Leichen von vier Menschen gefunden worden waren, hat die Polizei ein vierjähriges Mädchen geborgen. "Niemand hat sie gesehen, weil sie sich seit vier Uhr nachmittags nicht bewegt hat, zweifelsohne verängstigt, völlig versteckt, völlig reglos zwischen den Toten", sagte der Staatsanwalt der Stadt Annecy.

Bei drei der vier Erschossenen handelt es sich nach ersten Erkenntnissen um die Eltern und die Großmutter des Mädchens. Neben dem von Kugeln regelrecht durchsiebten Auto wurden nach Behördenangaben noch ein toter Fahrradfahrer und ein sechs oder sieben Jahre altes, schwer verletztes Mädchen gefunden. Ihr Zustand sei mittlerweile "stabil", sagte der Staatsanwalt. Nach Angaben des Leiters der polizeilichen Ermittlungen gehen die Ärzte davon aus, dass sie in einigen Tagen wieder ansprechbar sein wird.

Die Vierjährige sei unverletzt, sie stehe aber unter Schock, hieß es weiter. "Sie war fast acht Stunden lang zusammengekauert unter den Körpern und hat sich während dieser ganzen Zeit nicht bewegt", sagte der Staatsanwalt. Laut einem Ermittler war das Mädchen "unter den Beinen ihrer Mutter verborgen". Das Kind war zuvor nicht entdeckt worden, weil der Tatort abgesperrt war und erst nach Ankunft von Experten der Kriminalpolizei aus Paris genau untersucht wurde.

"Wir hatten die Anweisung, nichts anzufassen", sagte ein Polizist France Info. Die Polizisten hätten zwar durch das Autofenster ins Innere geschaut, das Mädchen aber nicht gesehen. Sogar mit einem Hubschrauber mit Wärmebild-Kamera, der weitere Personen aufspüren sollte, überflog die Polizei den Tatort. Doch das verängstigte Kind im Auto blieb bis Mitternacht unentdeckt.

Zur Aufklärung der Tat konnte sie bislang noch nichts beitragen. "Die Kleine sprach englisch. Sie hat Lärm gehört, Schreie, aber mehr konnte sie nicht sagen, sie ist erst vier Jahre alt", fügte der Staatsanwalt hinzu. Sie und ihre schwer verletzte, ältere Schwester stünden nun unter Polizeischutz.

Radfahrer wurde wohl zufällig Opfer

Ersten Erkenntnissen zufolge handelt es sich bei den Opfern um eine Familie aus Großbritannien, die auf einem Campingplatz in der Nähe des Sees von Annecy zeltete. Der Fahrer und gleichzeitige Besitzer des Wagens hatte laut Staatsanwalt die Daten seines Ausweises auf dem Campingplatz hinterlegt.

Britische Zeugen auf dem Campingplatz, die Mittwochabend das Verschwinden der Familie angezeigt hatten, sagten laut Polizei aus, dass es sich um Vater, Mutter und Großmutter sowie zwei Mädchen handelte. "Wir haben die Mädchen mit ihren Fahrrädern spielen sehen", berichtete eine niederländische Touristin. "Alle hier sind schockiert, Franzosen, Briten, Deutsche."

Nach Informationen des britischen Telegraph ist der aus dem Irak stammende Vater bereits seit rund 20 Jahren im Großraum von London ansässig. Der 50-Jährige soll für ein Satelliten- und Weltraumunternehmen gearbeitet haben. Die Familie galt als campingbegeistert und hatte ihren Wohnwagen für den Sommerurlaub auf einem Platz bei Annecy stehen. Die Großmutter soll einen schwedischen Pass gehabt haben.

Ein Passant hatte die vier Leichen am späten Nachmittag entdeckt. Offenbar hatte sich die Tat erst kurz zuvor ereignet, denn der Zeuge war erst wenige Minuten vorher von dem Radfahrer überholt worden, der dann erschossen neben dem britischen Auto lag. Dem Opfer aus einer Nachbargemeinde war offenbar zum Verhängnis geworden, dass er zum Zeitpunkt der Bluttat dort mit seinem Fahrrad vorbeikam.

Drei der Opfer wurden mit Kopfschüssen geradezu hingerichtet. Am Tatort wurden viele Patronenhülsen gefunden, die von einer automatischen Pistole stammen.

Das Motiv für die Tat ist bisher völlig unklar. Die Staatsanwaltschaft hielt einen kriminellen Hintergrund für wahrscheinlich, schloss aber auch ein Familiendrama nicht aus. "Wir wissen nicht, warum die Menschen sterben mussten", sagte der Staatsanwalt auf einer Pressekonferenz in Annecy. Fest stehe, dass jemand töten wollte.

Die Polizei durchsuchte mit etwa 60 Beamten die Wälder rund um die Ortschaft Chevaline, einer bei Touristen beliebten Gegend. Die Straßen wurden abgesperrt. Der Staatsanwaltschaft zufolge sollen die Leichen am Donnerstag oder Freitag obduziert werden.

© Süddeutsche.de/dpa/dapd/vks - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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