Hannover:Kino statt Notunterkunft

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Rund 50000 Menschen wurden evakuiert. (Foto: Peter Steffen/dpa)

Es ist die zweitgrößte Bombenräumung der Nachkriegsgeschichte: 50000 Hannoveraner mussten aus ihren Wohnungen, weil Blindgänger entschärft wurden.

Von Carsten Scheele, Hannover

Punkt 18 Uhr ist alles vorbei. "Sicherheitsbereich aufgehoben", verkündet die Einsatzleitung, alle drei Blindgänger aus dem Zweiten Weltkrieg, die Hannover am Sonntag in den Ausnahmezustand versetzt haben, wurden von den Sprengmeistern entschärft, die Zünder kontrolliert gesprengt. 50 000 Menschen dürfen zurück in ihre Wohnungen, für sie endet ein Tag des Wartens und der Ungewissheit.

50 000 Menschen, darunter die Patienten einer Klinik und die Bewohner von sieben Alten- und Pflegeheimen - das ist auch im evakuierungserprobten Hannover eine heftige Dimension. Bombenentschärfungen gehören hier zur Routine, seit dem Zweiten Weltkrieg schlummern etliche Blindgänger im Stadtgebiet, alle paar Monate werden welche entdeckt. Allein 2016 gab es vier Blindgänger-Einsätze, doch diesmal ist alles ein bisschen heftiger. Drei Stadtteile werden evakuiert - Vahrenwald, List und Nordstadt, das ist ein Zehntel Hannovers und gemessen an den Einwohnerzahlen die zweitgrößte Evakuierungsaktion in Deutschland seit 1945. Von neun Uhr an am Sonntagmorgen fahren Polizei und Feuerwehr durch die mehr als 150 betroffenen Straßen, fordern die Menschen auf, ihre Wohnungen zu verlassen. Die allermeisten machen sich brav auf den Weg, raus aus der Stadt, zu Freunden oder in Notunterkünfte. Polizisten klingeln an den Türen, einzelne müssen aufgebrochen werden, weil sich Unbelehrbare den Evakuierungsplänen widersetzen.

Mittags gleicht Hannover einer Geisterstadt: Die wuselige Lister Meile - menschenleer

Mittags gleichen die Gebiete einer Geisterstadt, die sonst wuselige Lister Meile - menschenleer. Die viel befahrene Vahrenwalder Straße - als wäre autofreier Sonntag. Polizeihubschrauber kreisen in der Luft, suchen das Gebiet mit Wärmekameras ab, eine schauerliche Szenerie. Die bange Frage: Geht auch diesmal alles gut?

Was Bombenentschärfungen angeht, ist Hannover eine geplagte Stadt. Allein in der Nacht zum 9. Oktober 1943, beim schwersten Angriff der britischen Royal Air Force während des Zweiten Weltkriegs, gingen 258 000 Brand- und 3000 Sprengbomben auf Hannover nieder. Der alte Stadtkern wurde quasi ausradiert, doch nicht alle Bomben detonierten. Hannover wurde wieder aufgebaut, die Blindgänger aber schlummern weiter unter der Erde.

Am Sonntag machen die Hannoveraner das Beste aus der Situation. Wer sein Haus verlassen musste, bekommt verbilligten Eintritt in den Kinos. Museumsangestellte legen Extraschichten ein, Busse und Bahnen fahren nach Sonderplänen. Die Stimmung der Menschen ist entspannt, "so viele freie Parkplätze wird's auf Jahre nicht mehr geben", schreibt einer auf Twitter.

Spät am Nachmittag legen die Sprengmeister los. Drei der vermeintlichen Blindgänger entpuppen sich als ungefährliche Schrottteile, drei weitere - zwei Fünf-Zentner- und eine Zehn-Zentner-Bombe - müssen entschärft werden. Eine ist problematisch, der Zünder lässt sich nicht händisch entfernen. Ein Wasserstrahlschneider kommt zum Einsatz, presst eine Quarzsandmischung mit hohem Druck millimetergenau in die Bombe, sodass das Metall zerschnitten wird und der Zünder frei liegt. Der gefährlichste Moment des Tages, alles geht gut. Nach neun Stunden dürfen die Hannoveraner wieder nach Hause. Bis zum nächsten Mal, die nächste Evakuierung kommt sicher.

© SZ vom 08.05.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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