Getöteter Alessio:Wenn das Jugendamt die Gefahr nicht sieht

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  • In Baden-Württemberg steht ein 33-jähriger Landwirt vor Gericht, weil er seinen dreijährigen Stiefsohn zu Tode geprügelt haben soll.
  • Es gab Warnsignale: Wegen Spuren von Missshandlung war das Jugendamt informiert. Ärzte hatten sogar Strafanzeige gestellt.

Von Josef Kelnberger, Stuttgart

Am 17. August hätte der kleine Alessio N. seinen vierten Geburtstag feiern können. Mit seinem schrecklichen Tod und der Frage, wer dafür die Verantwortung trägt, musste sich in diesem Sommer auch das Landesparlament von Baden-Württemberg auseinandersetzen. Sozialministerin Katrin Altpeter berichtete in einer nicht-öffentlichen Sitzung des Sozialausschusses, der Junge habe sein kurzes Leben lang unter unvorstellbaren Misshandlungen gelitten. Nun sei vollständige Aufklärung nötig - das zumindest sei der Staat dem Jungen schuldig.

Denn das Jugendamt wusste um die Gefahren für Alessios Leib und Leben, als er am 16. Januar starb - laut Staatsanwaltschaft zu Tode geprügelt von seinem Stiefvater.

Die Ärzte waren erschüttert von Alessios Zustand

Von diesem Dienstag an hat sich der mutmaßliche Täter, ein 33-jähriger Landwirt aus Lenzkirch im Schwarzwald, vor dem Landgericht Freiburg zu verantworten. Totschlag und schwere Misshandlung von Schutzbefohlenen wirft ihm die Anklage vor. Der Mann habe dem Jungen mindestens vier schwere Schläge in den Bauch versetzt, die zu Organversagen führten. Der Junge sei eine Treppe hinuntergestürzt, sagte der Stiefvater dem Kinderarzt, zu dem er den sterbenden Alessio brachte.

Der Landwirt galt im Ort angeblich als hilfsbereit und unauffällig. Er schien stolz zu sein auf seinen Stiefsohn, der im April 2013 mit seiner Mutter zu ihm gezogen war. Aber niemand kann behaupten, es habe keine Warnsignale gegeben. Hätte der Staat den Jungen besser schützen müssen?

Erst vier Monate hält sich Alessio auf dem Hof auf, da stellt ein Kinderarzt bei ihm Spuren von Misshandlung fest und überweist ihn in die Kinderklinik der Universität Freiburg. Die dortigen Ärzte informieren das Jugendamt Breisgau-Hochschwarzwald. Ein Kinderschutzverfahren wird eröffnet, Gespräche werden geführt, das Jugendamt attestiert den Eltern Kooperationsbereitschaft.

Ein Jahr später, August 2014, stellt eine Kinderärztin erneute Spuren von Misshandlung fest, wieder wird der Junge nach Freiburg überstellt. Die dortigen Ärzte sind erschüttert vom Zustand Alessios. Hämatome am ganzen Körper, Einblutungen ins Gehirn. Sie fordern das Jugendamt auf, Alessio zu schützen, und stellen Strafanzeige. Ein sehr ungewöhnlicher Schritt. Die Staatsanwaltschaft aber stellt das Verfahren ein. Sie kann Alessios Stiefvater nichts nachweisen, die Mutter scheut sich offenbar, gegen ihn auszusagen. Die Behörde schreibt aber an das Jugendamt: Alessio brauche dringend Schutz. Auch ein Brief der Kinderärztin, die Alessio nach Freiburg überwies, trifft beim Jugendamt ein: Alessio und seine im März 2014 geborene Halbschwester befänden sich in akuter Gefahr.

Eine 25-jährige Mutter, die als Jugendliche in ihrer Familie Opfer sexueller Gewalt geworden und dadurch traumatisiert ist. Ein Stiefvater, Landwirt mit Milchviehhaltung, der wohl unter Stress zu Gewalt neigt. Zwei kleine Kinder auf dem Hof, der Junge schwer misshandelt und in Angst vor seinem Vater. Das ist die Gemengelage, in der das Jugendamt Entscheidungen zu treffen hat.

Man schnürt ein Bündel von Maßnahmen. Alessio darf nicht auf den Hof zurückkehren. Die Mutter lehnt eine Einweisung in eine Mutter-Kind-Einrichtung ab, zieht aber mit den Kindern zur Großmutter des Stiefvaters. Eine Dorfhelferin kommt auf den Hof, Therapiemaßnahmen beginnen. Die Lage scheint sich zu entspannen. Im Oktober zeigt sich das Amt einverstanden damit, dass die Mutter mit den Kindern auf den Hof zurückkehrt. Und es belässt Alessio mit dem Vater auf dem Hof, als sich die Mutter im Dezember 2014 in stationäre psychiatrische Behandlung begibt.

Wo endet das Recht der Eltern?

Am 14. Januar macht der Stiefvater bei einer familientherapeutischen Sitzung laut Akten einen offenen, aber auch betroffenen Eindruck. Zwei Tage später ist Alessio tot. Sein Name steht nun in einer langen Reihe von Kevin bis Yagmur: Kinder, die trotz Betreuung durch das Jugendamt in der Familie zu Tode kamen.

Die Staatsanwaltschaft hat vor Prozessbeginn eine Liste von Grausamkeiten veröffentlicht, die man dem Angeklagten zur Last legt. Immer wieder Schläge. Zahnfrakturen, Lockerung der Zahnreihen. Im Juli 2014 soll er Alessios kleine Schwester geschlagen und bei anderer Gelegenheit so stark geschüttelt haben, dass das Baby kurzzeitig zu atmen aufgehört habe. Der Prozess wird Einfluss haben auf die politische Aufarbeitung des Falls. Das Landratsamt Breisgau-Hochschwarzwald hat seine Mitarbeiter von Schuld freigesprochen.

Das Regierungspräsidium Freiburg als Aufsichtsbehörde fand keine Verfahrensfehler, stellte in einem internen Bericht aber kritische Fragen. War die vom Jugendamt behauptete Wandlung des Vaters im Umgang mit dem Kind und seine Zugänglichkeit für Familientherapie wirklich überzeugend belegt? Hat man seine Gewaltneigung unterschätzt? Der Kreistag Breisgau-Hochschwarzwald hat mittlerweile das in München angesiedelte Deutsche Jugendinstitut beauftragt, die Abläufe zu untersuchen. In einigen Wochen sollen erste Ergebnisse vorliegen.

Wo endet das Recht der Eltern, an welchem Punkt muss ihnen der Staat aus Fürsorge die Kinder wegnehmen? Der Fall Alessio wird nach dem Urteil, das Mitte Oktober erwartet wird, noch lange nicht beendet sein.

© SZ vom 15.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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