Vereitelter Angriff im Schnellzug nach Paris:"Es war wie im Film, wir hatten keine Zeit zum Nachdenken"

Lesezeit: 4 min

  • Fünf Männer haben sich mutig dem Angreifer aus dem Thalys-Zug entgegengestellt, drei US-Amerikaner, ein Brite und ein Franzose.
  • Sie werden als Helden gefeiert.
  • Der Täter, ein 25-jähriger Marokkaner, bestreitet einen islamistischen Hintergrund - er habe lediglich Passagiere ausrauben wollen.

Von Christian Wernicke, Paris

Chris Norman beteuert es wieder und wieder. "Nein, ich bin kein Held", sagt der 62-jährige Engländer und grinst. Der Mann mit der hohen Stirn und dem lauten Lachen erzählt bereitwillig von jenen dramatischen Minuten, die sich am frühen Freitagabend im Thalys 9364 abgespielt haben. Er schildert, wie er schlagkräftig und mit eigener Faust mitgeholfen hat, Ayoub K. - den Täter aus Marokko - im Schnellzug zu überwältigen. Doch nein, einer jener fünf glorreichen "héros du Thalys", denen nun ganz Frankreich huldigt und die Präsident François Hollande am Montagmorgen im Élysée-Palast empfangen will, mag dieser leutselige britische Geschäftsmann partout nicht sein.

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Stattdessen stellt Chris Norman andere Helden in die erste Reihe. Allen voran Spencer Stone, den Soldaten der US-Luftwaffe: Der 23 Jahre alte Amerikaner sei als Erster auf den mit einer Kalaschnikow und einer automatischen Pistole bewaffneten Marokkaner losgestürmt: "Der hat dann ein Teppichmesser gezogen und Spencer mehrmals am Hals geschnitten", bezeugt der Brite, "aber Spencer hat ihn gehalten, und wir haben ihn unter Kontrolle bekommen. Sonst hätte es ein Blutbad werden können, keine Frage." Während Norman sich des Horrors von Zug 9364 erinnert, während er herausstreicht, wie heldenhaft zwei weitere Amerikaner - der 22-jährige US-Nationalgardist Alek Skarlatos und der 23-jährige Student Anthony Sadler aus Kalifornien - den Täter niedergerungen hätten, erkennt man die Flecken an Normans weißem Poloshirt und seiner beigen Hose. Blutspuren. Er selbst sagt: "Ich kam erst als Vierter."

"Klar hatte ich Angst, aber irgendwie hat das Adrenalin uns gesteuert"

Tatsächlich waren es die drei mutigen Amerikaner, die sich als erste Helden auf Ayoub K. gestürzt hatten. Alek Skarlatos, der gerade unversehrt einen neunmonatigen Militäreinsatz in Afghanistan überstanden hatte und als bekennender Fußballfan im roten Bayern-Trikot im Thalys-Wagon 13 saß, erinnert die Sekunden genau.

Zunächst habe er den schmächtigen Mann, der da gegen 17.50 mit nacktem Oberkörper und Sturmgewehr im Anschlag aus der Zugtoilette auf den Gang trat, nicht bemerkt. Aber dann fiel ein Schuss, Glas zersplitterte, und der Schaffner rannte durch den Gang davon. Da hätten sich die drei Freunde, die erstmals Europa bereisten, blitzschnell entschlossen zu handeln: "Klar hatte ich Angst, aber irgendwie hat das Adrenalin uns gesteuert. Es war wie im Film, wir hatten keine Zeit zum Nachdenken," sagt Skarlatos.

Chris Norman hingegen hat nachgedacht. Einen Moment jedenfalls. Er spürte, wie die Angst ihn ihm hochstieg. Und im Nachhinein gibt er offen zu, dass er sich zunächst wegducken wollte: "Als erstes habe ich zu mir gesagt: Scheiße!" Ein paar Sekunden währte dieses Zaudern. Aber als er dann hörte, wie die Amerikaner sich "Let's get him!" zuriefen, wie er dann sah, dass sie losrannten - da hat er den Mut zur eigenen Courage in sich wiederentdeckt. "Ich habe mir gedacht, ich würde wahrscheinlich sowieso sterben", berichtet Norman, "und dann dachte ich: Vielleicht ist es unsere einzige Chance, gemeinsam zu überleben." Also: "Let's go".

Die US-Bürger Anthony Sadler und Alek Skarlatos und der Brite Chris Norman überwältigten den Attentäter. (Foto: AP)

Spencer Stone, selbst verletzt, leistete Erste Hilfe

Mit geballter Kraft haben sie dann Ayoub K. niedergestreckt. Mit Schlägen, und mit dessen eigener Waffe: Alek Skarlatos hat dem Täter wiederholt dessen Kalaschnikow ins Gesicht geschlagen - "bis der ohnmächtig war". Die Helden des Thalys haben Glück im Unglück gehabt. Das Sturmgewehr des Angreifers hatte Ladehemmungen, obendrein hatte der 25-jährige Marokkaner auch seine Pistole nicht ordentlich präpariert.

Dennoch, ein Schuss traf einen französischen Passagier nahe der Halsschlagader. Der bislang unbekannte Mann, der nach Informationen der Tageszeitung Le Parisien als Erster dem Angreifer das Gewehr zu entreißen versuchte, wäre wohl verblutet. Aber Spencer Stone, selbst verletzt, leistete Erste Hilfe. Stone, ein breitschultriger Athlet, ist in seiner Freizeit Jiu-Jitsu-Kämpfer und will nach dem Militärdienst Sanitäter werden.

Der Amerikaner Spencer Stone verlässt die Klinik in Lille. Er wurde verletzt, als er als einer der ersten mithalf, den Attentäter zu überwältigen. (Foto: Reuters)

Während die Helden reden, schweigt der Täter. Seit Freitagabend kurz vor Mitternacht sitzt Ayoub K. in Verhören. Erst auf dem Polizeikommissariat im nordfranzösischem Arras, wo der Thalys am Freitagabend eine halbe Stunde nach dem vereitelten Attentat einrollte. Und seit Samstag in den Räumen einer Spezialeinheit zur Terrorbekämpfung am Stadtrand von Paris. K. verweigerte zunächst jede Aussage, seine Identität ermittelten die Beamten mithilfe von dessen in europäischen Datenbanken gespeicherten Fingerabdrücken. Der junge, bärtige Mann hatte seit 2007 in Spanien gelebt und war dort zweimal wegen Drogenhandels verhaftet und verurteilt worden.

Aus Ermittlerkreisen heißt es, dass der Täter sich selbst keineswegs als islamistischen Terrorist sieht. "Dieser Vorwurf bringt meinen Mandanten fast zum Lachen", berichtet seine Pflichtverteidigerin Sophie David. K. erzähle eine völlig andere Geschichte. Demnach will der illegale Immigrant seit Wochen in Brüssel als Obdachloser in einem Park gehaust haben. Und dort habe er eines Tages eben diesen mysteriösen Koffer gefunden - mit Kalaschnikow, Pistole und etlichen Magazinen Munition. Da sei ihm die Idee gekommen, mit Gewalt zu Geld zu kommen: Als Zugräuber, der seine Opfer bei 300 Stundenkilometer mit vorgehaltener Waffe ihrer Wertsachen entledigen wollte. Auch der von K. im Verhör vorgetragene Fluchtplan klingt extrem simpel. Er habe den Zug per Notbremse stoppen, ein Fenster zertrümmern und übers freie Feld türmen wollen. Während des Angriffs habe der Täter unter Einfluss von Beruhigungsmitteln gestanden, schreibt Le Parisien.

Frankreichs Terrorfahnder glauben diese Version nicht. Von spanischen Fahndern haben sie Hinweise erhalten, dass K. - in Nordmarokko geboren, Schulabbrecher mit 14, Kleinkrimineller mit 16, Migrant mit 18 - sich in der islamistischen Szene von Algeciras herumtrieb. Der Inlandsgeheimdienst DGSI legte deshalb im Januar 2014 vorsorglich eine "Fiche S" an, eine Akte wegen potenzieller Gefahr für die Staatssicherheit. Deutsche Sicherheitsbehörden melden, K. sei im Mai über Berlin in die Türkei geflogen. Das nährt den Verdacht, der Attentäter sei etwa bei der Terrormiliz Islamischer Staat in die Schule gegangen. K. kontert, das sei nicht er gewesen - jemand habe vor Monaten seinen Pass geklaut.

© SZ vom 24.08.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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