Dutroux-Komplizin vor Freilassung:Ohne Reue ins Kloster

Lesezeit: 4 min

Im Gefängnis will Michelle Martin, verurteilte Komplizin des belgischen Entführers und Mörders Marc Dutroux, zu Gott gefunden haben. Zumindest die Nonnen eines Klarissen-Ordens glauben der vermeintlich Geläuterten und wollen ihr eine vorzeitige Entlassung ermöglichen. Viele Belgier sind entsetzt.

Martin Winter, Brüssel

Lange hatten die Belgier gehofft, den dunklen Schatten dieser Verbrechen entkommen zu sein. Doch in diesem Sommer wurden sie wieder davon eingeholt. Michelle Martin, Ehefrau und Komplizin des Entführers, Vergewaltigers, Mörders und Gewohnheitsverbrechers Marc Dutroux wird auf Bewährung freigelassen. Nun fragt sich das Land beunruhigt, ob die Justiz nicht wieder einmal versagt wie so oft in der Affäre Dutroux, in der Gesetzeslücken, nachsichtige Richter und schlampige Polizisten ihren Teil dazu beitrugen, dass das Verbrecherpaar viele Jahre lang unbehelligt wüten und den Gerichten entkommen konnte.

Könnte bald aus dem Knast in ein Kloster entlassen werden: Michelle Martin, verurteilte Komplizin des belgischen Entführers und Mörders Marc Dutroux. (Foto: AP)

Diese Sorge brachte am Sonntag wieder einmal Demonstranten vor den Justizpalast in Brüssel, wie schon vor 16 Jahren, als das Ausmaß der Affäre Dutroux bekannt geworden war. 5000 waren es, viel weniger als damals, als am 20.Oktober 1996 330.000 aufgebrachte Belgier die Regierung beinahe weggefegt hätten. Aber auch die geringere Anzahl tat ihre Wirkung.

Kaum hatte Laetitia Delhez, die Dutroux' letztes Opfer war und nur knapp überlebte, erklärt, dass der "Kampf" für die Reform der Justiz "aktuell wie eh und je" sei, da kündigte Justizministerin Annemie Turtelboom sie auch schon an: Bewährung soll es bei besonders schweren Verbrechen künftig frühestens nach drei Vierteln der abgesessenen Haft geben und nicht wie heute schon nach einem Drittel. Und gegen die Urteile der Bewährungskammern kann in Zukunft Widerspruch eingelegt werden.

Geschieht nichts Unerwartetes mehr, kommt Martin frei

Im Fall Michelle Martin aber hilft das den Opfern und deren Familien nichts. Sie waren von der Bewährungskammer in Mons nicht angehört worden, und gegen deren Beschluss können sie auch keinen Widerspruch einlegen. Geschieht nichts Unerwartetes mehr, dann kommt Martin nach der Verbüßung von 16 der 30 Jahre Haft in den nächsten Tagen frei, wenn auch unter strikten Auflagen.

Und die Opfer werden mit dem Gefühl leben, dass die Richter sich von dieser Frau, die sich gerne selber als Opfer des gewalttätigen Dutroux darstellt, haben einwickeln lassen. Dafür gibt es zumindest einige Hinweise. So soll Martin die Richter bei der Bewährungsanhörung wenigstens in einem Punkt belogen haben, berichtet die Zeitung Le Soir.

Dass die Kammer in Mons zu dem Schluss gekommen ist, dass bei Martin keine Rückfallgefahr bestehe, will Jean-Denis Lejeune nicht in den Kopf. Die Frau sei eine "große Manipuliererin", sagt der Vater von Julie, der Achtjährigen, die gemeinsam mit der gleichaltrigen Melissa Russo im Kellerverlies der Dutrouxs starb, weil Martin sie verhungern ließ. Und für gerecht hält er es schon gar nicht, dass Martin aus dem Gefängnis entlassen wird, ohne dass die Opfer vorher angehört wurden.

Denn sie hätten viel zu sagen. Und nicht nur sie, sondern auch viele Belgier fragen sich, was das für eine Justiz ist, die eine Verbrecherin freilässt, die ihre Taten nie bereut hat. Die sich durch Verzicht auf eine Erbschaft mittellos machte, wohl um den Opferfamilien keine Entschädigung zahlen zu müssen. Die behauptet, Dutroux hörig gewesen zu sein und nur aus Angst vor ihm mitgemacht zu haben. Und die an der Geschichte festhält, auch wenn ihr kaum jemand glaubt.

Marc Verwilghen, Leiter des Dutroux-Untersuchungsausschusses und später Justizminister, nennt Martin in einem Interview eine "Wiederholungstäterin" und beklagt, dass "ein Täter immer noch mehr Rechte hat als sein Opfer".

Dass Martin eine Täterin ist, belegen die Kritiker der Freilassung mit zwei Hinweisen: Als Martin Mitte der 80er-Jahre gemeinsam mit Dutroux wegen der Entführung und Vergewaltigung von fünf jungen Frauen und Mädchen verurteilt wurde, hätte sie die Gelegenheit nutzen können, sich von ihm zu befreien. Stattdessen hat sie ihn im Gefängnis geheiratet.

Und die Mädchen Melissa und Julie hätte sie durchaus retten können. Als die Polizei das Haus nach Diebesgut durchsuchte, lebten die Mädchen noch. Dutroux saß wegen Autodiebstahls in Untersuchungshaft und konnte sie nicht bedrohen. Dennoch sagte sie der Polizei nichts.

Chance auf Wiedereingliederung in die Gesellschaft

Deswegen, sagt Lejeune, habe Martin "kein Recht darauf", in die Gesellschaft zurückzukehren. Das ist nun die Sicht eines Vaters, der immer noch um seine Tochter trauert. Auch in Belgien gilt aber die Regel, dass Strafgefangene eine Chance auf Wiedereingliederung in die Gesellschaft haben, wenn sie die Voraussetzungen dafür erfüllen. Bei Michelle Martin sind die Richter zu diesem Schluss gekommen, auch weil sie sich im Gefängnis angeblich Gott zugewandt hat und weil sie ihre Therapie, wie es heißt, erfolgreich nur in Freiheit abschließen könne.

Dass sie freikommt, verdankt Martin vor allem aber den Klarissinnen in Malonne, einem Vorort von Namur. Diese sind bereit, ihr Obdach zu geben. Eine feste Adresse ist die zwingende Voraussetzung für die Freilassung. Außer diesen Nonnen hatte sich niemand in Belgien gefunden, der Martin aufnehmen würde. Französische Nonnen hatten im vergangenen Jahr ihre ursprüngliche Zusage zurückgezogen, nachdem sie sich etwas näher mit Martin beschäftigt hatten.

Dass die Klarissinnen trotz großen öffentlichen Drucks zu ihrem Wort stehen, begründet deren Äbtissin damit, dass sie "zutiefst davon überzeugt" seien, dass es niemandem nützt und "die Gesellschaft zurückwirft", wenn man jemanden, der "vom Wege abgewichen ist", in seiner "Vergangenheit einschließt".

In einer Erklärung aber beugen die elf Nonnen, deren älteste 94 Jahre ist, dem schlimmsten Fall vor: dem Rückfall. Die Verantwortung dafür, dass Martin keine Gefahr mehr für die Gesellschaft darstelle, liege allein bei den juristischen Autoritäten, sagen sie.

Bundespolizisten sollen das Kloster abriegeln

Mit der Ruhe im Kloster ist es allerdings vorbei. Seit Paul und Betty Marchal, die Eltern der von Dutroux ermordeten, damals 17-jährigen An Marchal, ohne Ergebnisse von einem Gespräch mit der Äbtissin zurückkehrten, erhöht sich der Druck auf die Nonnen. Die Arbeitsverwaltung prüft, ob die Abmachung "Unterkunft gegen Arbeitsleistung", auf die sich die Nonnen mit Martin geeinigt haben, nicht ein Fall von Schwarzarbeit ist. Einige Anwälte denken darüber nach, von Martin im Kloster erarbeitete Einkommen beschlagnahmen zu lassen.

Bundespolizisten werden das Kloster abriegeln, damit keine Demonstranten eindringen können. Maxime Prévot, der Bürgermeister von Namur, drängt die Nonnen, die Öffentlichkeit von den Gottesdiensten auszuschließen - aus Sicherheitsgründen.

Und sie mögen doch bitte ab sofort genau prüfen, wer sich in ihren Gästezimmern für Tage der Besinnung und Einkehr einmietet. Möglicherweise trocknet diese Geldquelle des Klosters aber aus. Denn wer außer ein paar sensationslüsternen Menschen möchte schon einer Frau wie Martin über den Weg laufen oder Exerzitien unter Polizeischutz machen?

Was Martins Freilassung noch im Wege stehen könnte, ist ein Gericht in Lüttich. Es prüft rein formal, ob die Bewährungskammer in Mons korrekt zusammengesetzt war. Erheben die Richter in Lüttich am 28. August keine Einwände, womit belgische Juristen rechnen, dann ist Martin am Tag danach frei.

Es sei denn, die Klarissinnen überlegen es sich noch einmal anders.

© SZ vom 21.08.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: