Berlin:Eine Stadt sucht

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Der kleine Elias verschwand von einem Potsdamer Spielplatz. Jetzt suchen Hunderte Freiwillige.

Von Verena Mayer, Berlin

Schlaatz in Potsdam gehört zu jenen ostdeutschen Stadtteilen, die oft Schlagzeilen machen, aber selten positive. Graubraune Plattenbauten reihen sich hier aneinander, es gibt wenig Arbeit und viel Armut; Schlaatz ist das, was man einen "sozialen Brennpunkt" nennt. Die Meldung, die Schlaatz nun bundesweit bekannt gemacht hat, geht wieder in diese Richtung: Ein kleiner Junge ist vom Spielplatz verschwunden, am Mittwoch schon. Und niemand will etwas bemerkt haben.

Szenen einer Suche: Anwohner und Nachbarn durchkämmen seit Mittwoch die Stadt. (Foto: Nestor Bachmann/dpa)

Vermisst wird der sechsjährige Elias. Er wohnt mit seiner Familie in einem Plattenbau und spielte im Sandkasten direkt vor dem Haus, die Mutter hatte ihm vom Wohnzimmer im ersten Stock aus im Blick. Doch als sie ihn am frühen Abend zum Essen holen wollte, war Elias nicht mehr da. Die Frau rief die Polizei, die daraufhin begann, die Gegend mit Spürhunden abzusuchen, an Wohnungstüren zu klingeln und Passanten zu befragen. Vergeblich.

Und nun zeigt sich die unbekannte Seite von Schlaatz, zum Beispiel direkt vor dem Bürgerhaus. Vor dem rötlichen Zweckbau, einem Nachbarschaftszentrum, sind Tische, Bänke und Zelte aufgebaut, bis in die Nachtstunden versammeln sich hier Anwohner, um bei der Suche nach Elias zu helfen. Sie haben Karten vor sich liegen, markieren Gebiete, die sie durchkämmen wollen. Sie verteilen Flyer, durchstreifen Grünflächen, informieren auf Facebook, allein am Wochenende waren es 700 Helfer. Männer und Frauen in neongelben Warnwesten, Jugendliche, ältere Ehepaare, und aus der Umgebung kommen Geschäftsleute, bringen Taschenlampen oder Getränke. Die Schlagzeile zu Schlaatz muss dieser Tage lauten: Ein Stadtteil sucht einen vermissten Jungen.

Die Potsdamer Polizei zeigte sich am Montag beeindruckt. Es sei "außergewöhnlich", so viele freiwillige Helfer zu haben, die zudem die Arbeit der Polizei "um Längen einfacher machen", sagte ein Sprecher. Werden Kinder vermisst, gehe es darum, sehr schnell so weiträumig wie möglich zu suchen. 99 Prozent der als vermisst gemeldeten Kinder tauchen dann wohlbehalten wieder auf. Bei der Polizei hofft man, dass das Beispiel Schlaatz Schule macht. Und es ein größeres Bewusstsein dafür gibt, sich um "seine Umgebung, die Nachbarn zu kümmern". Gerade hat der Bund Deutscher Kriminalbeamter (BDK) angeprangert, wie gleichgültig Passanten Kindern gegenüber seien, die allein unterwegs sind oder gar von Fremden angesprochen werden. Das sei ein "gesamtgesellschaftliches Phänomen", heißt es aus dem BDK.

Indessen sind 270 Hinweise zu Elias eingegangen, eine heiße Spur gibt es allerdings noch nicht. Die Polizei ist nun dabei, Videoaufzeichnungen aus Bussen, Tankstellen oder Supermärkten auszuwerten. Am Montag waren zudem wieder Taucher im nahegelegenen Fluss unterwegs. Derzeit gehe man nicht von einem Verbrechen aus, teilt die Potsdamer Polizei mit. Über das Umfeld, aus dem Elias stammt, will man nichts sagen, außer dass es "normal bürgerlich" sei. Die 25-jährige Mutter, die Elias mit ihrem Lebensgefährten großzieht, ist erst vor Kurzem aus Berlin in den Potsdamer Stadtteil Schlaatz gezogen, um als Übersetzerin eine neue Stelle anzutreten. Die Frau erlitt am Wochenende einen Schwächeanfall und musste ins Krankenhaus gebracht werden. Zuvor war sie noch, blass und in Tränen aufgelöst, bei den Helfern am Bürgerhaus gewesen, um sich für die unerwartete Unterstützung zu bedanken.

© SZ vom 14.07.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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