Belgien:Vom Staatsschutz zum Serienmord

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Der frühere belgische Innenminister Jan Jambon kann sich nicht an den Fall des verstorbenen Slowaken erinnern, sagt er. Doch er soll wegen des Vorfalls Kontakt zur slowakischen Botschaft gehabt haben. (Foto: Nicolas Maeterlinck/afp)

Die belgische Politik befasst sich mit der Bande von Nivelles, die in den 80er-Jahren brutale Morde verübte. Auch die Polizei ist in Erklärungsnot.

Von Thomas Kirchner, Brüssel

Alle paar Jahre taumelt Belgien. Weil sich unermessliche Abgründe auftun und das ganze Land schockieren. Die Erkenntnis 2015, dass mitten in Brüssel Europas gefährlichste Islamisten leben, war so ein Moment. Die Taten des Kinderschänders Marc Dutroux 1996 waren ein anderer. Und schon Anfang der Achtzigerjahre hatte die brutale Mordserie der "Bande von Nivelles" die Bürger tief erschüttert. Was in diesen Tagen über Ermittlungspannen und Vertuschungen bekannt wird, bestätigt nun abermals das Gefühl vieler Belgier, ihrem Staat und seinen Eliten nicht recht trauen zu können.

Die Öffentlichkeit wusste bisher fast nichts über die damaligen Täter, die bei 16 Überfällen auf Geschäfte und Supermärkte rund um Brüssel wahllos um sich schossen, 28 Menschen töteten und Dutzende verletzten. Dass auch kein Motiv zu erkennen war - das wenige erbeutete Geld passte nicht zu dem Gewaltexzess -, machte den Angehörigen besonders zu schaffen. Wie sich nun herausstellt, wussten die Behörden damals doch erheblich mehr - oder hätten mehr wissen können.

Die Führung bei den Ermittlungen wechselte mehrmals, von einem "Ermittlerkrieg" war die Rede, Beamte warfen Kollegen Manipulation von Beweisen vor. 1986 legte ein Verdächtiger ein Geständnis ab, das er später widerrief. Ein Teil der Akten wurde verbrannt. 1996 starteten die Behörden dann eine groß angelegte "Ermittlung der letzten Chance", die zum Teil in den Händen der Rijkswacht, der Gendarmerie, lag. Sie erhielt, wie man jetzt weiß, 1998 einen "goldenen Tipp": den Hinweis auf Christiaan B., der am Wochenende durch das Bekenntnis seines Bruders als einer der mutmaßlichen Anführer der Bande von Nivelles identifiziert wurde.

B.s Größe, sein Aussehen, seine Kontakte zu Kriminellen, seine Vergangenheit bei einer Sondereinsatzgruppe entsprachen genau dem Täterprofil. Aus heutiger Sicht war er hochgradig verdächtig. Doch B. war eben auch Mitglied der Gendarmerie gewesen. Und blieb vielleicht deshalb ungeschoren. Aus der Elitetruppe war er 1981 nach einem Zwischenfall mit seiner Dienstwaffe entlassen worden. Er fühlte sich ungerecht behandelt und tat sich vermutlich mit ehemaligen Kollegen zusammen. Der Verdacht, dass die Täter aus Sicherheitskreisen stammen, lag angesichts der militärischen Professionalität ihres Vorgehens nahe. Er wurde auch früh geäußert, aber nicht weiter verfolgt.

Die Frage ist, warum die Staatsschützer zu kaltblütigen Massenmördern wurden, und ob sie auf eigene Faust oder im Auftrag anderer handelten. Viele meinen, damals hätten rechte Kreise versucht, den lange Jahre sozialistisch dominierten belgischen Staat zu destabilisieren. Stimmt das, handelte es sich bei den Überfällen damals nicht um Gewalttaten, sondern um Terrorangriffe.

Die Ermittlungen haben eine neue Dynamik erhalten, beweisen lässt sich allerdings noch nichts. Auch die Politik wurde eingeschaltet. Justizminister Koen Geens musste am Dienstag Fragen des Parlaments beantworten. Innenminister Jan Jambon beteuerte, die Gendarmie der Achtzigerjahre sei mit der "aktuellen Polizei" nicht im Mindesten zu vergleichen. Dass er recht hat, müssen seine Beamten nun beweisen.

© SZ vom 25.10.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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