"Schmelztiegel Penzberg":Der steinige Weg in ein neues Leben

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74 Nationen sind in Penzberg vertreten, was beim Stadtfest 2013 gefeiert wurde. Auch viele Vertriebene fanden nach 1945 hier eine neue Heimat. (Foto: Neubauer)

70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs hat der Verein für Denkmalpflege und Penzberger Stadtgeschichte das Schicksal von Flüchtlingen in einem Buch dokumentiert. Herausgekommen ist ein Stück anschauliche Geschichte

Von Wolfgang Schäl, Penzberg/Benediktbeuern

Man greift mit großem Interesse hinein in diese Berichte, die eine Fundgrube sind für alle, die sich für jüngere Zeitgeschichte interessieren. Zum Beispiel in die Schilderungen jenes "Herrn T.", den es aus seiner alten Heimat Tschechien in die oberbayerische Bergarbeiterstadt verschlagen hat. Unter der Rubrik "Wie Herr T. ein Penzberger wurde" lässt der Anonymus kurz seine Kindheit Revue passieren, schildert die politischen Veränderungen in der NS-Zeit, die Bedingungen bei der Flucht, beim Abtransport der Sudetendeutschen in Viehwaggons: "Alte Menschen, die beim Zwischenaufenthalt nach draußen auf die Toilette gehen wollten, werden zurückgelassen, wenn sie zu langsam waren, um rechtzeitig wieder einzusteigen." Den Schilderungen des Herrn T. zufolge endet die Zugreise irgendwann in Weilheim, wo an die 80 Vertriebene auf Strohsäcken in der Oberlandhalle übernachten müssen, total isoliert sind und nach und nach in umliegende Dörfer verteilt werden. Endstation ist schließlich Iffeldorf.

Vertreibung und Neubeginn nach 1945: die Probleme mit der Unterbringung der Flüchtlinge, die schlechte allgemeine Versorgung mit Nahrungsmitteln, das Verhältnis zwischen den neu Angekommenen und den Einheimischen: Das alles ist im näheren Umkreis nicht allein ein Geretsrieder Thema, die Folgen des Nationalsozialismus haben auch in Penzberg deutlich ihren Niederschlag gefunden. 70 Jahre nach Kriegsende hat sich der Verein für Denkmalpflege und Penzberger Stadtgeschichte in Kooperation mit Studenten der Katholischen Stiftungsfachhochschule Benediktbeuern der aufwendigen und verdienstvollen Aufgabe verschrieben, die unmittelbare Nachkriegsphase von 1945 bis 1954 in Zeitzeugenberichten zu dokumentieren. Unter dem Titel "Schmelztiegel Penzberg" ist in zweijähriger Arbeit ein gewichtiges, 324 Seiten umfassendes Werk für all jene entstanden, die Historie nicht allein als reine Sachdarstellung zur Kenntnis nehmen, sondern auch atmosphärisch, aus der Sicht der damals Betroffenen, nachempfinden wollen. Zum Stimmungsbild der damaligen Zeit trägt auch ein Pressespiegel bei, der die Lage wiedergibt - federführend war damals der Hochland-Bote, der in den Landkreisen Garmisch, Weilheim, Schongau und Bad Tölz erschien.

Den Anspruch konsequenter Wissenschaftlichkeit erheben die Herausgeber - für die redaktionelle Bearbeitung zeichnet Barbara Kaulbarsch verantwortlich - erklärtermaßen nicht; umso mehr ist ein Stück spannender, übersichtlich gegliederter Lektüre entstanden, ein Lesebuch, in dem sich gut zwanglos blättern lässt. Erstaunlich die Menge des Materials, das übrigens nicht nur durch Interviews zustande gekommen ist, sondern auch bei zwei Erzählabenden, die als Audiodateien aufgezeichnet wurden und mit eingeflossen sind - die Zeitzeugen von damals sind ja mittlerweile hochbetagt, und viele Flüchtlinge von damals leben längst nicht mehr.

Die Erinnerungen des erwähnten Herrn T. sind jedenfalls noch sehr lebendig. Da gab es dann in der Nähe von Iffeldorf ein Zimmer, "da sind die Mäus' spazieren gegangen und durchzog'n hat's'". Mit den Schulkindern gab es Spannungen - "wir waren einfach Flüchtlinge", und auch für die Einheimischen sei es schwer gewesen, die ohnehin knappen Mittel mit so vielen Neuankömmlingen zu teilen. Herr T. schildert dann das Wiedersehen mit seinem Vater, der Spätheimkehrer war, die Lehrzeit, die Entwicklung neuer Perspektiven, die Umstellung auf die neue Kultur. Dann das erste eigene Zimmer in Penzberg, der Umzug der Eltern nach Beuerberg, Herr T. besucht sie regelmäßig "mit der Bummelbahn". Man muss dieses gewiss typische Fallbeispiel des Herrn T. nicht bis zu dessen Familiengründung weitererzählen, anzumerken wäre allenfalls, dass er heute 80 Jahre ist und nach wie vor in Penzberg lebt.

Da wäre auch die Geschichte der Familie von Frau S., die von tschechischen Soldaten aus ihrem Heimatort Reichenberg vertrieben wurde. Die Mutter und zwei Geschwister landen in verschiedenen Gefangenenlagern, die Schwester im Gefängnis, der Vater ist schon vor dem Krieg gestorben. Stationen der Flucht von Frau S.: Köln, Zittau, in überfüllten Zügen nach Thüringen, dort Lageraufenthalte, schließlich Köln, Bad Heilbrunn und schließlich Penzberg, wo Frau S. Fuß fasst, heiratet, Mutter wird und mit ihrem Mann gemeinsam ein Elektrogeschäft betreibt. Gemeinsam sind den Kulturen in Oberbayern und der alten Heimat: Trachten. Schon als Kind hatte sie immer Dirndl getragen. Die Stätten ihrer Kindheit hat Frau S. fortan gemieden, nur einmal in ihrem Leben ist sie nach Reichenberg zurückgekehrt. Es sei, wie die Tochter von Frau S. rückblickend sagt, "emotionale Schwerstarbeit gewesen".

Man sei von der Aufgabe, ein Interview mit einer Kriegsflüchtigen zu führen, anfangs sehr verunsichert gewesen, gestehen die jungen Berichterstatter. Man sei sich bewusst gewesen, dass man es mit "unvorstellbaren Schicksalsschlägen" zu tun haben würde. Diese Vermutung habe sich bei dem Anfang Dezember geführten Gespräch mit Frau S. bestätigt - mit großen Emotionen habe sie ihre bewegende Lebensgeschichte erzählt.

"Schmelztiegel Penzberg. Die Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen 1945 bis 1954", Verein für Denkmalpflege und Penzberger Stadtgeschichte, 2015; 15 Euro; Bestellung über www.denkmalverein-penzberg.de

© SZ vom 07.04.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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