Mitten in Wolfratshausen:Diagnose zum Dampfablassen

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Wenn einem ein Fremder auf der Straße plötzlich eine Krankheit attestiert, überrascht das. Vor allem im Januar, der nach den Neujahrsvorsätzen doch ganz im Zeichen der Gesundheit steht.

Von Kostantin Kaip

Der Januar ist ein an Genüssen armer Monat - steht er doch im Zeichen hehrer Neujahrsvorsätze, im Namen der Gesundheit endlich Verzicht zu üben. Die einen kauen entschlossen Salat statt Schnitzel; die anderen - auch der Autor dieser Zeilen - ziehen tapfer an der neuen Elektrozigarette, um Dampf statt Rauch zu inhalieren. Stoisch nimmt man dabei die selben abschätzigen Bemerkungen hin, die man vor Monaten noch selbst beim Anblick solcher Entwöhnungsapparate in fremden Mundwinkeln gemacht hat. Schließlich ist der einst chronische Husten schon deutlich zurückgegangen, auch die Atemnot beim Treppensteigen.

Mit der Zuversicht des Kurierenden steht man dann eines Vormittags am Loisachufer, um die Dampferpause, die ja um ein Vielfaches weniger schädlich ist als die vormals praktizierte Raucherpause, zu genießen. In der einen Hand hält man das Smartphone, in der anderen das silberne Dampfgerät mit der nikotinhaltigen Flüssigkeit, deren Füllstand in einem mit Eichstrichen versehenen Fenster unter dem Mundstück angezeigt wird. Anders als bei der Zigarette, die ja unaufhaltsam abbrennt, muss man sich nun nicht mehr beeilen, zu ziehen: Den Dampf gibt es nur auf Knopfdruck, wohldosiert. Ein Hoch auf die Gesundheit!

Umso härter trifft einen dann die völlig überraschende Diagnose, die einem ein älterer Herr, der gerade aus einem Auto steigt, zuruft: "Sie haben Diabetes!", teilt er triumphierend mit. Weil man ihn noch nie gesehen hat und sich in Sachen Blutzucker stets ungefährdet wähnte, ignoriert man den Fremden zunächst. Als er aber näher kommt und seine Feststellung wiederholt, wird man doch stutzig. Vielleicht handelt es sich ja um einen erfahrenen Facharzt im Ort, der die Unzulänglichkeit der Bauchspeicheldrüse an der Färbung der Augenringe oder der Wölbung des Bauches erkannt hat. Man denkt unversehens an den Schweinsbraten und die Schokolade, die man in den vergangenen Tagen gegessen hat. Sollte einem das Schicksal wirklich so übel mitspielen, dass man das eine Leiden abwenden will und das andere dafür bekommt? Aber man kann doch nun wirklich nicht alles auf einmal aufgeben!....

Kurz bevor man verzweifeln kann, begründet der Fremde seinen Befund: Man halte doch eine Insulinspritze und ein Blutzuckermessgerät in den Händen, sagt er, wohl ein vermeintlicher Leidensgenosse, mit dem Blick eines Kenners. Und erleichtert kann man das Missverständnis aufklären, dass es sich bei den Utensilien nur um eine E-Zigarette und ein Smartphone handelt. "Nix für ungut", sagt der andere, ein wenig peinlich berührt. Und während er sich entfernt, muss man unwillkürlich aufatmen. Darauf eine Zig..., äh, einen tiefen Zug aus dem Dampfapparat, der tatsächlich an eine Spritze erinnert.

© SZ vom 23.01.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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