Mitten in Kochel am See:Goethetauchen im Wickie-Dorf

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Die Gemeinde vernachlässigt ihren berühmtesten Tagestouristen. Aber die nahe Kurstadt macht es ja auch nicht besser

Von Klaus Schieder

Wer die Serpentinen zum Walchensee herunterkurvt, dem fällt ein großer Kopf auf. Dabei handelt es sich nicht um eine Büste, die den Kochler Bürgermeister Thomas Holz oder einen bekannten Wilderer zeigt, sondern Johann Wolfgang von Goethe. Streng blickt der Herr Geheimrat über den See, mit einem verkniffenen Zug um den Mund. Das gibt ihm eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Deutschlehrer selig, der auch so humorlos dreinsah, wenn er in den Schulaufgaben lauter Unsinn von Literaturbanausen lesen musste, die von nichts eine Ahnung hatten, erst recht nicht von Goethe. Der Dichterfürst legte auf seinen Reisen nach Italien stets Rast am Walchensee ein, deshalb die Marmorskulptur. Schon erstaunlich aber, dass eine Fremdenverkehrsgemeinde wie Kochel aus dem berühmten Tagestouristen nicht weit mehr Kapital zu schlagen versteht.

Es gäbe so viele Möglichkeiten: Goethe-Lesungen auf dem Herzogstand, Goethes Iphigenie auf Tauris in der Heimatbühne, Goethe-Schwimmen, Goethe-Surfen und Goethe-Tauchen im See, Goethe-Kutschfahrten über die Rüttelstreifen den Kesselberg hinauf, Goethe-Ballonflüge ins Land, wo die Zitronen blühen. Aber nichts da. Dabei ist Kochel keineswegs um Einfälle verlegen, wie sich im Flake-Dorf zeigt, das aus einem Kinder-Wikingerfilm übrig geblieben ist: Wikinger-Märkte, Wikinger-Bogenschießen, Wikinger-Lager, Wikinger-Feuershow, Wikinger-Handwerk und Wikinger-Eintopf. Fehlt bloß eine Wickie-Büste am Seeufer, aber die kommt sicher noch.

Nach Bad Tölz hat es Goethe merkwürdigerweise nie verschlagen. Immerhin muss er auf seiner Reise in die Gefilde jenseits der Alpen in einem kuriosen Zickzackkurs von Kuhdorf zu Kuhdörfchen gefahren sein, wenn all die Haustafeln, Wandinschriften und Büsten in halb Deutschland stimmen. Aber Tölz hat ja seinen Thomas Mann. Dem geht es allerdings schlechter noch als Goethe am Walchensee, er hat es trotz seiner Sommeraufenthalte in der Kurstadt nicht mal zu einer Büste, sondern bloß zum Namen für einen kleinen Spazierpfad am Klammerweiher gebracht. Und natürlich schon gar nicht zu Thomas-Mann-Festspielen, Thomas-Mann-Trachtenumzügen, Thomas-Mann-Tagen der Darmgesundheit . . . Vom "Bullen von Tölz" zeugen hingegen ein Museum und ein Brunnen. Was der Deutschlehrer selig darüber wohl gedacht hätte? Wahrscheinlich das, was ihm auch beim Benoten von Schulaufgaben durch den Kopf ging.

© SZ vom 27.04.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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