Wohnung zu klein:Asoziales Urteil

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"Vierköpfige Familie darf nicht in Ein-Zimmer-Wohnung leben" vom 23./24. April:

Eine vierköpfige Familie muss in München eine 25,88-Quadratmeter-Wohnung räumen. Das verlangt nicht nur der Vermieter, sondern ein deutsches Gericht bestätigt auch noch "im Namen des Volkes", dass diese Kündigung "berechtigt" ist und die Eltern mit ihren beiden Kindern ausziehen müssen. Das ist nicht nur "tragisch" für diese Menschen, sondern ein Skandal, ein asoziales Urteil. Soweit sind wir jetzt schon, dass in Deutschland per Gerichtsentscheid eine Familie aus ihrer gemieteten Wohnung auf die Straße gesetzt wird, weil sie sich keine "größere" leisten kann. Was ist die Konsequenz? Sie werden abgeschoben und landen in einer der Obdachlosenunterkünfte.

Bei solchen Entscheidungen wünschte ich mir die gleiche Hilfsbereitschaft und das gleiche Engagement von Bürgern dieser Stadt, des Oberbürgermeisters, von den "sozialen und christlichen" Parteien und Organisationen, wie die letzten Monate für die Neuankömmlinge am Münchner Hauptbahnhof. Deutschland ist ein "reiches Land", das hören und lesen wir immer wieder. Aber wir vergessen, oder wollen es nicht wahr haben: Mehr als 12 Millionen Menschen leben in Deutschland an und unterhalb der Armutsgrenze, und täglich werden es mehr; jedes vierte Kind lebt inzwischen in Deutschland in Armut; Hunderttausende können von 40 Wochenstunden Arbeit ihren Lebensunterhalt nicht mehr bestreiten und müssen zusätzlich zum Sozialamt; München, unsere gesamte Region und viele andere prosperierende Großstädte kann sich ein "Normalverdiener" nicht mehr leisten; mehrere zehntausend Menschen "wohnen" in sogenannten Schlichtwohnungen, menschenunwürdig und am Rande der üblichen Wohnsiedlungen; viele Hunderttausende, die ein Leben lang gearbeitet haben, beziehen in Deutschland Kleinstrenten und müssen zusätzlich noch Stütze beantragen - für die Meisten dieser Generation ein würdeloser Akt, und dieser Anteil wird, bedingt durch die veränderten Arbeits- und Lohnbedingungen, rapide anwachsen.

All diese Menschen finden kein Gehör, sie werden in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Ich würde mir wünschen, dass wir für diese Personengruppen auch mal in unser Grundgesetz schauen. Wie ist das für die oben angegebenen Millionen von Bürgerinnen und Bürgern zum Beispiel mit: Artikel 1 "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt" (Artikel 1). "Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit" (Artikel 2). "Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich" (Artikel 3). "Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft" (Artikel 6). "Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen" (Artikel 14). Diese Grundregeln unseres Landes gelten doch auch für (Miet-)Gerichte?

Wie lange hält das eine demokratische Gesellschaft aus, dass bald ein Drittel der Bevölkerung "durch den sozialen Rost" fällt? Es gibt für viele Millionen Menschen in Deutschland keine Öffentlichkeit, keine mediale Aufmerksamkeit, auch keine Partei, die diese Menschen überhaupt beachtet. Diese abgehängten Menschen sind der werktäglichen "Sonntagsreden" überdrüssig. Was bleibt ihnen übrig, außer zu resignieren? Sie gehen auf die Straße und rennen hinter Rattenfängern und markigen Parolen her und wählen rechtsradikale und rechtspopulistische Parteien. Das ist die einzige Möglichkeit für sie, dass sie überhaupt wahrgenommen werden, dass sie eine "Stimme" bekommen. Herbert Becke, Garching

© SZ vom 06.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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