Wiesnauftakt:Der ganz normale Wahnsinn

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München erlebt ein ruhiges Wochenende und einen fast schon entspannten Auftakt des Oktoberfestes. Am Hauptbahnhof ist die Strategie von Staatsregierung und Behörden offenbar erfolgreich: In der Stadt kommen nur noch ein paar Hundert Flüchtlinge an

Von Thierry Backes, Franz Kotteder und Thomas Schmidt

An diesem Wochenende erledigt Dieter Reiter seine wichtigste Aufgabe lässig und fast schon im Vorbeigehen. Diesmal geht es ja auch nicht darum, dass der Münchner Oberbürgermeister dafür verantwortlich ist, über Nacht Tausende Flüchtlinge zu versorgen und unterzubringen. Diesmal ist die Sache weit einfacher: Während Tausende im Zelt die Sekunden herunterzählen, haut Reiter zweimal kräftig auf den Wechsel und sagt das, was im Schottenhamel alle hören wollen: "O'zapft is! Auf eine friedliche Wiesn!" So weit, so unspektakulär. Denn die entscheidende Frage an diesem Wochenende ist ja ausnahmsweise mal nicht, wie gut sich der OB beim Anstich macht. Es ist die Frage: Darf man in Zeiten der Flüchtlingskrise ausgelassen feiern? Und: Kann das am Münchner Hauptbahnhof gut gehen: Tausende Wiesn-Besucher einerseits, Flüchtlinge aus Kriegsgebieten andererseits?

Dieter Reiter hat klare Antworten auf beides: "Wir haben in München gezeigt, dass wir Empathie für die Flüchtlinge haben. Und wenn während der Wiesn weiter so viele kommen, dann werden wir auch das meistern", sagt er kurz nach dem geglückten Anzapfen. Diese Gelassenheit konnte sich der SPD-Politiker bis Sonntagabend bewahren: München hat einen eher ruhigen Oktoberfestauftakt erlebt - und musste sich um so wenige ankommende Flüchtlinge kümmern wie seit Wochen nicht mehr. Bis zum Sonntagnachmittag haben Bundes- und Landespolizei am Wochenende gerade einmal 360 Menschen registriert. In der Unterkunft in Dornach, die zuletzt eilig bereitgestellt werden musste, waren von den 3000 Plätzen am Sonntag nur noch 200 belegt. "Keine Probleme", heißt es im Innenministerium.

Offenbar hat gefruchtet, was sich die Staatsregierung und der eigens gegründete "Koordinierungsstab Asyl/Oktoberfest" vorgenommen hatte - Züge mit Flüchtlinge um München herumzuleiten, in der Stadt Wiesn-Besucher und Asylbewerber möglichst zu trennen. So steht denn auch Wolfgang Hauner am Samstagmittag ganz entspannt am Hauptbahnhof. Während Reiter gerade auf der Wiesn anzapft, ist es am Gleis 26, wo in den vergangenen Wochen so viele Flüchtlinge zum ersten Mal Münchner Boden betreten haben, menschenleer. "Ein ganz normaler erster Wiesntag", sagt der Sprecher der Bundespolizei. "Es ist sogar eher weniger los als sonst." Hauner muss es wissen, es ist der 23. Wiesneinsatz für ihn. Spezielle Maßnahmen, Festbesucher von Flüchtlingen zu trennen, gibt es nicht. Ein paar wenige Helfer stehen in der Gegend herum und warten auf Arbeit. Polizisten vertreiben sich die Zeit, indem sie Reisenden den Weg erklären oder aufgeregte Touristinnen im Dirndl mit deren Handys knipsen. Erst am Samstagabend um 23.30 Uhr kommt noch ein Zug aus Rosenheim mit 134 Schutzsuchenden an, "fast unbemerkt von den Wiesnbesuchern", sagt Hauner. Ein bisschen "beidseitiges Staunen" zwischen Flüchtlingen und Heimkehrern vom Oktoberfest gab es, das war's. "Die Verteilung an der Stadt vorbei in andere Bundesländer funktioniert immer besser", heißt es beim Innenministerium. Auch am Sonntag kommen nur kleine Gruppen an.

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(Foto: Christoph Stache/AFP)

Die erste Mass kann noch so schlecht eingeschenkt sein - von den Massen wird sie sehnsüchtig erwartet.

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(Foto: Stephan Rumpf)

Darauf ein Bussi.

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(Foto: Stephan Rumpf)

Am Hauptbahnhof mussten Polizisten nicht Flüchtlingen, sondern Touristen helfen.

Auch auf der Wiesn geht es verhältnismäßig entspannt zu. Am Samstag wird zwar schon um 13.20 Uhr die erste Bierleiche vom Roten Kreuz behandelt, aber auf dem Festgelände bleibt es für Wiesn-Verhältnisse ziemlich ruhig. Natürlich, das gute Wetter spielt mit, das entzerrt die Besucherströme. Die Zelte sind zwar meist wegen Überfüllung zu, es gibt lange Schlangen vor den Toiletten, der neuen Riesenschaukel "Konga" oder vor dem Ochsensemmeleingang der Ochsenbraterei, aber die Stimmung bleibt gelassen. Ungefähr so, wie es sich Wiesn-Chef und Bürgermeister Josef Schmid (CSU) gewünscht hat: Es brauche eine "ruhige, fröhliche Herbstwiesn", sagt er beim Anzapfen. Die grüne Fraktionsvorsitzende im Landtag, Margarete Bause, diagnostiziert dagegen schon "eine gewisse Schizophrenie", wenn sie an die Flüchtlinge denkt und die feiernden Massen im Zelt sieht. OB Reiter wirkt dagegen gelassen, fast schon erleichtert. Er posiert für Selfie-Jäger, unterschreibt auf Bierkrügen. "Die Stimmung ist mindestens so gut wie im letzten Jahr", sagt er. Dass Reiter so gut gelaunt auftritt, hat wohl auch damit zu tun, dass er einen Schluss gezogen hat aus den vergangenen Wochen: München hat geholfen, München darf nun feiern. Am Sonntagabend dann ist Dieter Reiter erleichtert und spricht von einem entspannten und persönlich erholsamen ersten Wiesnwochenende. "Es war relativ friedlich, und das ist mir das Wichtigste", sagte er der SZ. Diese Stimmung stören nur rund 35 Neonazis unter Anführung von Philipp Hasselbach. Die rechtsextremistische Partei "Die Rechte" hat am Samstag zu einer Kundgebung gegen Flüchtlinge vor dem Hauptbahnhof aufgerufen - und 250 Gegendemonstranten kommen. Die Stimmung ist aggressiv. Hasselbach, Vorsitzender des Münchner Kreisverbands der Rechten, spricht über Flüchtlinge und geifert, die "weiße Rasse" drohe "ausgetauscht" zu werden. Als ein paar Autonome an den Absperrgittern der Polizei rütteln, droht die Situation kurz zu eskalieren - doch es bleibt bei verbaler Kraftmeierei.

Auf der Wiesn in der Regel auch. Überhaupt gibt sich das Fest vorbildlich, meint Wirtesprecher Toni Roiderer. "Auch das Wetter passt, es ist nicht zu warm und nicht zu kalt", sagt er. Eine ganz normale Wiesn eben: "Alles ist genau so, wie es sich gehört."

© SZ vom 21.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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