"Wie ein Start-up im BR":Piraten auf dem alten Tanker

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"Wir sind wie ein Start-up im BR", sagt Mustafa Isik. Er ist Abteilungsleiter für Software-Entwicklungen und Plattformen. (Foto: Florian Peljak)

Mustafa Isik, Leiter der Software-Entwicklung beim Bayerischen Rundfunk, hat mit seinem Team eine neue BR-Mediathek aufgebaut. Sie soll eine Alternative zum linearen Fernsehen werden und nicht nur genutzt werden, wenn es heißt: "Sendung verpasst?"

Von Gerhard Fischer

Kann dieser Mustafa Isik überhaupt ruhig sitzen? Er rennt durch die Büros im BR-Hochhaus. Trifft junge Menschen. Grüßt sie. Stellt sie vor. Sagt, das seien Designer, Programmierer, Administratoren. Rennt weiter. Sagt, dass 80 Leute mit ihm arbeiten würden. In seiner Abteilung, die einzigartig sei in der ARD. Rennt weiter. Erklärt Dinge und verwendet Anglizismen. Sagt "umbranden", zum Beispiel. Rennt weiter. Bei kleineren Menschen sieht das besonders mobil und munter aus. Isik ist 1,65 Meter groß.

Mustafa Isik, 37, ist Abteilungsleiter für Software-Entwicklungen und Plattformen beim Bayerischen Rundfunk. Die Abteilung hat in den vergangenen vier Jahren fast 15 Produkte entwickelt - von einer Flüchtlings-App über neue Internetseiten bis hin zur Nachrichten-App BR24. Und jetzt kommt eine neue Mediathek dazu: Isik wird sie nächste Woche bei den Medientagen in München vorstellen.

Er rennt weiter durch die Büros der Kollegen. An den Wänden hängen bunte Bilder. Digitale Montagen von Mitarbeiter-Fotos. Alte Landschaftsgemälde, die sie irgendwo im BR-Gebäude aufgetrieben haben. Spielzeuggewehre liegen auf den Tischen. Und Videokonsolen. "Wir sind wie ein Start-up im BR", sagt Isik. Man könnte auch sagen: Der alte Tanker BR hat jetzt Piraten an Bord.

Fast jedes Unternehmen steht heute vor der Herausforderung, wie es sich digital für die Zukunft aufstellt. Gerade der Bayerische Rundfunk muss an die jungen Leute denken - das Durchschnittsalter seiner Zuseher ist 64 Jahre.

Isik ist seit 2013 beim BR. "Ich wurde damals geholt, um ein Innovationslabor aufzubauen", sagt er. "Das war für den Bayerischen Rundfunk etwas Neues." Es gab bloß Blogs für einzelne Sendungen und Auslandskorrespondenten, eine Mediathek und eine Internetseite. Mustafa Isik hatte anfangs nur einen 18-jährigen Praktikanten an seiner Seite: Florian Thoma. Sie tüftelten in der sogenannten digitalen Garage des BR. "Wir hatten viel Freiraum und waren explorativ unterwegs", sagt Isik. Florian Thoma sei heute noch dabei.

Mustafa Isik ist stehen geblieben. Er blickt auf die Kollegen und lächelt. "Ich habe nie gedacht, mal beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu landen", sagt er.

Mustafa Isik wuchs in Ostwestfalen auf; die Eltern waren 1965 aus der Türkei gekommen und betrieben in Herford ein Restaurant. Er habe von ihnen den Willen, den Fleiß und den Mut mitbekommen, sein Ding durchzuziehen - auch wenn es Widerstände gebe. Als Jugendlicher träumte er davon, an einer amerikanischen Elite-Universität zur "Superprogrammiermaschine" ausgebildet zu werden. Er sammelte 5000 Fachmagazine und lernte sehr gut englisch. Aber es wurde nichts mit der Uni in den USA - die Aufnahmegebühren waren zu hoch.

Isik studierte stattdessen in München Informatik. Doch er schmiss sein Studium hin, kurz vor dem Ende, drei Scheine vor der Ziellinie. Es war ihm zu theoretisch. Der Spaß war weg. Komplett. Er habe damals "eine richtige Quarterlife-Crisis gehabt", sagt er. "Fundamentale Zweifel bei jemandem, der seit seinen frühesten Kindheitstagen Programmierer werden wollte." Stattdessen verbrachte er seine Zeit mit Computerspielen und Partys.

Aber irgendwann dachte er: "Du kannst das alles nicht wegwerfen." Isik bekam einen Job bei einem Start-up. Er programmierte endlich. Und er holte den Bachelor und den Master nach. Es folgten ein Praktikum bei Google - also doch noch ein bisschen USA - und diverse Jobs, in denen er Podcasts herstellte und Computerspiele entwickelte; er lehrte an der Uni, schrieb Artikel für Fachbücher, arbeitete bei Open-Source-Projekten. Und. Und. Und.

Mittlerweile hat Isik die Büro-Runde beendet und ist in seinem Zimmer angekommen. Er kann ruhig sitzen, aber die Geschwindigkeit ist nun von den Beinen in die Zunge gewandert. Wie kann einer so schnell reden, schneller als Dieter-Thomas Heck? Für Isiks junge Mitarbeiter: Heck hat früher die ZDF-Hitparade moderiert und geredet wie ein Spielzeugmaschinengewehr. Mustafa Isik spricht jetzt über die neue Mediathek, die komplett von seinem Team gebaut worden sei - damit könne der BR "höchstmögliche Kontrolle und Sicherheit über die Daten garantieren".

Die Mediathek sollte nicht nur inhaltlich gut sein, sondern auch technisch top. "Wir konkurrieren da nicht regional oder national, sondern mit den Größen dieser Welt, mit Google, Netflix oder Amazon", sagt Isik. Der BR habe 80 Leute für die Technik. Netflix habe 900.

Mustafa Isik ist grundsympathisch und sehr offen, aber manchmal redet er irgendwie allgemein und zugleich arg speziell. Fachchinesisch und interne BR-Sprache. Isik spricht davon, dass in den Unternehmen die Daten bisher in Daten-Silos digital abgelegt worden seien. "In der heutigen Online-Welt muss man an diese Silos rankommen, um sie auszuspielen." Man habe "den Programmmachern für die neue Mediathek viel mehr Werkzeuge gebaut". Sie könnten damit "Inhalte in Gefäße gießen". Aha.

Er setzt sich vor seinen beiden Bildschirme, um die Dinge besser erklären zu können: rechts ist die alte Mediathek, links die neue. Sofort fällt auf, dass die neue optisch schöner ist. Feiner. Schärfer. Und aufgeräumter. Rechts: Alle Fenster sind gleich groß - wo schaut man da hin? Links: Es gibt einen klaren Aufmacher auf der Startseite. Und der Rest ist gegliedert in Unterthemen, zum Beispiel Politik, Wissen, Serie, Magazin und Information. Videos können angerissen werden. Ausschnitte aus längeren Sendung können herausgenommen und auf Facebook oder Twitter geteilt werden. "Deep linking" nennt man das.

"Die neue Mediathek besteht aus zwei Säulen", sagt Isik. "Erstens das redaktionelle Kuratieren, das heißt: das Bestücken der Mediathek durch die Redakteure und Programmmacher." Die zweite Säule sei das Personalisieren: maßgeschneiderte Empfehlungen für die Nutzer der Mediathek - mit Merklisten und Vorschlägen und der Möglichkeit, Sendereihen zu abonnieren. Bisher habe man die Mediathek gebraucht, wenn es hieß: "Sendung verpasst"? Künftig solle man die Mediathek als Alternative zum linearen Fernsehen nutzen.

Mehr als zwei Stunden sind vergangen. Mustafa Isik will beim Hinausgehen noch die vielen Preise zeigen, die sein Team gewonnen hat. Sie sind in einer Vitrine im Flur ausgestellt. Einen Preis haben sie für die Flüchtlings-App "Ankommen" erhalten, die sie mit dem Bundesamt für Migration,dem Goethe-Institut und der Bundesagentur für Arbeit entwickelt haben. Da sind Sprachkurse drauf, es gibt juristische Unterstützung und Lebenshilfe allgemein. "Diese App haben wir technisch in sechs oder sieben Wochen entwickelt, unter großem persönlichen Einsatz über die Weihnachtstage", sagt Isik. "Nur an Heiligabend haben wir kurz ausgesetzt."

Als sie im Januar 2016 fertig war, wurde Mustafa Isik in der Tagesschau interviewt. Leider findet man das Gespräch in keiner Mediathek mehr. Es ist zu lange her.

© SZ vom 20.10.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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