Weltrekord im Dauerschafkopfen:Bis zum letzten Stich

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Um den Weltrekordversuch zu dokumentieren, filmt eine Kamera die Kartenrunde, während auf einem Bildschirm die Zeit angezeigt wird. (Foto: Stephan Rumpf)

222 Stunden - den Weltrekord im Dauerschafkopfen hält eine Runde aus Nürnberg. Das wollen sechs Freunde aus München nicht auf sich sitzen lassen und den "Titel" nach Giesing holen. Gegen die Müdigkeit kämpfen sie mit Blödeleien an, gelegentlich mit Schnaps - doch das rächt sich.

Von Wolfgang Görl

Novembergrau liegt der Morgen in der Pilgersheimer Straße, leichter Nieselregen fällt, vom Candidplatz dröhnt das Rauschen des Berufsverkehrs. Novembergrau ist auch die Gesichtsfarbe der vier Kartenspieler, die in der kleinen Eckkneipe "Bar Bajanni" schafkopfen.

Gerade hat Bernd Müller das nächste Spiel an sich gerissen, er sagt die Sau an, in diesem Fall das Schellen-Ass. Nur ist es so, dass die betreffende Karte in dieser Runde einen ganz anderen Namen hat. Sie heißt "Laura". So, so: Laura ist die Schellen-Sau. Näheres geben die Giesinger Kartler in dieser Sache nicht preis. Dass aber eine Frauengeschichte dahinter steckt, wird zumindest nicht dementiert.

Ist auch zweitrangig. Wichtig ist hier allein das Spiel, das Michael Ziegler mit dem Eichel-Ober, dem höchsten Trumpf, eröffnet. Daraufhin wirft Müller lässig aus dem Handgelenk die Herz-Sau auf den Tisch, Dominik Beyer opfert dazu seinen Gras-Unter. Dominik Weiß ist als Letzter an der Reihe. Er entledigt sich der Herz-Sieben - zu holen war ja nichts mehr. Also geht der erste Stich an Ziegler. Das freut auch Bernd Müller, der sich als Zieglers Mitspieler, als dessen Verbündeter herauskristallisiert hat. Am Ende haben die beiden 66 Punkte, das reicht locker für den Sieg. Der monetäre Gewinn beläuft sich auf satte zehn Cent.

Es geht nicht ums Geld

Doch tatsächlich geht es hier nicht ums Geld, jedenfalls nicht in erster Linie. Etwas weitaus Bedeutenderes steht auf dem Spiel, nichts Geringeres als eine Weltbestleistung. Die Giesinger Kartler wollen einen neuen Weltrekord im Dauerschafkopfen aufstellen und damit Eingang ins Guinness-Buch der Rekorde finden.

Die Zeit läuft mit - so wissen die Kartler immer ganz genau, wie lange sie nicht durchhalten müssen. (Foto: Stephan Rumpf)

Was den aktuellen Weltrekord in dieser anspruchsvollen Disziplin betrifft, ist die Lage ein wenig unübersichtlich. Im Guinness-Buch, so erzählt Dominik Beyer, sind derzeit noch 170 Stunden als Rekordmarke verzeichnet. Aber diese Bestleistung ist mittlerweile mehrmals überboten worden, zuletzt von einer Nürnberger Schafkopf-Runde, die auf 222 Stunden kam.

Ein alter Rekord

Doch die Mühlen der Rekord-Verwalter in London mahlen langsam, es vergehen viele Monate, bis so eine Bestleistung registriert, geprüft und anerkannt ist. Damit auch gar keine Zweifel aufkommen, wo die ausdauerndsten Schafkopfer hocken, wollen die Giesinger Rekordanwärter die Leistung der fränkischen Konkurrenz deutlich übertrumpfen. Erst nach exakt 260 Stunden - das sind knapp elf Tage - wollen sie die Karten aus der Hand legen. Dann wäre eine Scharte ausgewetzt, welche das Ansehen der ansonsten tadellosen Münchner Schafkopf-Kultur in peinlicher Weise beschädigt.

Noch vor dem Beginn ihres Rekordversuchs haben die Giesinger Dauerkopfer der Welt wissen lassen: "Schafkopfen gehört zu München wie die Brezn zur Weißwurscht. Deshalb empfinden wir es geradezu als Unding, dass der aktuelle Rekord im Dauerkartenspielen im Schafkopfen seinen Sitz nicht in unserer schönen Landeshauptstadt hat." Auf das Lamento folgt umgehend die Kampfansage: "Wir holen den Weltrekord nach München! Genauer - nach Giesing."

Am besagten trüben Montagmorgen ist die Stimmung nicht mehr ganz so triumphal. Die Helden sind müde, mittlerweile haben sie rund eine Woche Schafkopfen hinter sich. Auf einem Bildschirm zählt eine Digitaluhr die verbleibende Zeit herunter. Noch 86 Stunden liegen vor ihnen, am Donnerstag wäre das Ziel erreicht. "Man wird langsam knatschig", sagt Beyer, der eine kurze Lederhose und Badeschlappen anhat. Noch müder als er sind Ziegler und Weiß, die die ganze Nacht durchgespielt haben und sich der Ablösung um zwölf Uhr mittags entgegensehnen.

Der Weltrekord liegt bei mehr als 220 Stunden - aufgestellt in Franken. (Foto: Stephan Rumpf)

Im Moment aber schnarchen der Jurastudent Manuel Valasakis und der Kaufmann Peter Brunner, deren 16-Stunden-Schicht mittags beginnt, noch im Hinterzimmer der Bar. Insgesamt besteht das Münchner Rekordteam aus sechs Mann: Vier spielen, zwei schlafen. Gegessen wird während des Spiels, halb Giesing versorgt seine Marathon-Kartler mit Verpflegung. Insgesamt verwöhnen mehr als 70 Helfer die Schafkopfrunde mit einer Rund-um-die-Uhr-Betreuung.

Wieder werden die Karten verteilt, neues Spiel, neues Glück. Bernd Müller zehrt noch vom vorangegangenen Triumph. "Auf die wunderschöne Laura", ruft er. Doch auch der Gedanke an die offenbar legendenumwobene Dame macht die müden Männer nur noch mäßig munter. Alles, was sie ersehnen, ist der Moment, an dem der letzte Trumpf ausgespielt, der letzte Stich gemacht ist.

Man muss Farbe bekennen

Erinnerungen werden wach. An den Mittwoch der vorhergehenden Woche beispielsweise, als im nahegelegenen Grünwalder Stadion das Lokalderby zwischen Sechzig und Bayern lief. Waren zwar nur die zweiten Mannschaften, aber hier, in Giesing, ist das egal. Vor dem Anpfiff, kurz vor acht, war die Bajanni-Bar voller Löwenfans, die rasch noch ein Bier kippten, um für die bevorstehende Konfrontation auf den richtigen Pegel zu kommen. Draußen zogen rot kostümierte Bayern-Fans vorbei, durch die Pilgersheimer Straße hallten Schlachtrufe und Schmähungen, während sich auf der Fahrbahn brummende Autos zu einer langen Schlange reihten, an deren Kopf die Polizei mit Blaulicht postiert war. Echte Derbystimmung also, Rot gegen Blau, Blau gegen Rot. Hier in Giesing muss man Farbe bekennen, nicht nur beim Karteln.

Doch als ginge sie das alles nichts an, klopften die Schafkopf-Freunde in aller Ruhe die Karten auf den Tisch - eine Insel der Seligen mitten im Hexenkessel. Aber der Schein trog. "Man kann sich kaum noch konzentrieren", jammerte Müller, dem das Fan-Getümmel allmählich auf den Keks ging. Dabei haben die sechs Spezl gar nichts gegen Fußball, im Gegenteil: Sie spielen ja selbst, die meisten von ihnen beim SC München. Nur beim Schafkopfen mit seinen anspruchsvollen taktischen Finessen stört es halt doch, wenn den Spielern unentwegt ins Ohr gebrüllt wird, dass hier der FCB respektive der TSV regiert.

Zum Zeitpunkt des Lokalderbys haben die Dauer-Schafkopfer gerade mal 67 Stunden hinter sich, und doch machen sich erste Verschleißerscheinungen bemerkbar. "Langsam tut mir der Rücken weh", klagt Beyer und wirft resignierten Blicks eine Eichel-Zehn auf den Tisch. Danach winkt er ab, wohl wissend, dass er mit dieser Karte nicht groß herauskommt. Den entscheidenden Stich macht Student Valasakis, der aber auch schon bessere Tage gesehen hat. Zur blauen Turnhose trägt der junge Mann bleiche Thrombosestrümpfe, was seine sportliche Gesamterscheinung erheblich beeinträchtigt. "Zur Vorsorge", sagt Valasakis, dessen Vater die Kneipe gehört. "Die Beine werden mit jedem Tag schwerer."

Über dem Kartentisch ist eine Kamera angebracht, die das Geschehen für die Guinness-Buch-Macher dokumentiert. Bei allem Respekt für die Torturen, die die Giesinger Freunde auf sich nehmen - dramatisch sind die Bilder dieser immerwährenden Schafkopfrunde selten. Angesichts dessen kommt der Gedanke auf, dass Rekord-Kontrolleur bei Guinness nicht gerade ein Traumjob ist. Ob da wirklich einer die gesamten Aufnahmen anschaut, um zu prüfen, ob alles mit rechten Dingen zugeht? Zuschauen, wie sechs Giesinger Spezis 260 Stunden lang Schafkopf spielen - ist es das, warum man zu Guinness gegangen ist?

Der Computer zeichnet alles ganz genau auf. (Foto: Stephan Rumpf)

Gewiss, es werden auch vergnügliche Szenen darunter sein. Zum Beispiel, wenn sich einer beim Kartenverteilen vergibt. Dann muss er zur Strafe einen Schnaps trinken. Überhaupt Alkohol. Der ist der Leistung eher abträglich, weshalb er hier nur in geringeren Dosen genossen wird. Aber ganz so streng sind die Freunde auch wieder nicht. "Der lustigste Tag war, als wir Schnaps getrunken haben", berichtet Beyer. "Blöd war dann nur der Kater am Nachmittag."

Der Triumpf ist nah

Aber auch den haben die sechs Extremsportler verkraftet, weshalb der Triumph mittlerweile zum Greifen nahe ist. Schon am Donnerstag könnte Giesing der Nabel der Schafkopf-Welt sein. Das alte Arbeiterviertel wäre die Heimat der besten Dauerschafkopfer auf dem Globus, dafür lohnt es sich durchzuhalten. Was könnte bis zum Donnerstag noch dazwischenkommen? Die wunderschöne Laura vielleicht, die ist immer eine Gefahr. Oder plötzliche Leistungsabfälle, die zur unverzüglichen Aufgabe führen.

Oder aber Zwietracht unter den Spielern. Hierfür gibt es erste Anzeichen. Manuel Valasakis gewinnt nämlich andauernd, und das sehen seine Sportsfreunde nicht gerne. "Der wird von Fortuna geküsst", bemerkt Ziegler mit deutlich hörbarem Neid. "Manuel muss froh sein, wenn wir ihn in der Nacht nicht mit dem Kissen ersticken." Gut, dass Manuel das nicht hört. Aber er schläft ja. So heißt es zumindest.

Giesinger Milieustudien

Eigentlich öffnet die Bar erst um sechs Uhr abends, aber jetzt, während der Rekordversuch läuft, schneien schon mal die ersten Frühstückstrinker herein, in der Hoffnung auf ein schnelles Bier. Am Abend kommen dann diejenigen, die am Nachmittag woanders vorgeglüht haben. Neben dem Kartenspiel betreibt das Sextett inzwischen aufschlussreiche Giesinger Milieustudien. "Da gibt es welche, die schaffen in fünf Stunden 13 oder 14 Weißbiere", sagt Beyer.

In welchem Zustand die dann sind? "Im selben, in dem sie gekommen waren." Frauen verlaufen sich hingegen seltener in die kleine Bar. Und wenn doch, sagt Müller, "sind ihr Alter und ihr Alkoholpegel ziemlich hoch". Stört aber nicht, fügt er hinzu: "Das ist Giesing." Aber jetzt muss er sich aufs Spiel konzentrieren. Wieder ist die Schellen-Sau angesagt. Die Laura.

© SZ vom 13.11.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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