Wandler zwischen zwei Welten:Der Mann mit dem Drachen

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Als Kind eines Gastarbeiters kam Erdogan Altindis mit zehn Jahren nach Bayern. Wegen seiner Kinderlähmung wurde er operiert und besuchte später die Behindertenschule. Heute ist er ein erfolgreicher Architekt und Unternehmer und baut Brücken zwischen Istanbul und München. Der Dialog darf nicht abreißen, sagt er

Von Martina Scherf

Als Kind ließ Erdogan Altindis oft bunte Drachen steigen. Wenn sie sich hoch in die Lüfte von Anatolien schwangen, Pirouetten drehten im trockenen Wind, dann flog Erdogan im Geiste mit. Dann vergaß er für eine Weile, was ihm auf der Erde das Leben schwer machte: dass er nicht laufen konnte wie andere Jungs, dass seine Beine durch eine Kinderlähmung verkrüppelt waren und er an selbstgeschnitzten Krücken zur Schule humpeln musste.

Trotzdem war Erdogan Altindis ein aufgeweckter Junge, als er 1973 aus seiner Heimatstadt Kayseri nach Deutschland kam, allein mit einem fremden Mann. Sein Vater war Gastarbeiter in München und hatte die Reise arrangiert, in der Hoffnung, deutsche Ärzte würden seinem Jungen helfen können. Ein vergilbtes Foto von damals zeigt die beiden glücklich vereint: Der Vater im Anzug, der Sohn im Strickpullunder, so sitzen sie nebeneinander in der Arbeiterbaracke und blicken fröhlich lächelnd in die Kamera. Zehn Jahre war Erdogan damals alt, Erdogan, der Mutige, so die türkische Bedeutung seines Namens.

Jetzt sitzt der Architekt und erfolgreiche Unternehmer Erdogan Altindis im Münchner Stadtcafé, einen bunten Schal lässig um den Hals geschlungen, die Krücken an die Wand gelehnt, und blickt auf die vor ihm ausgebreiteten Fotos. "Ich bin meinem Vater ewig dankbar, dass er mich damals holen ließ", sagt er. Es ist nicht nur ein Satz, so dahingesagt. Altindis schluckt, es rührt ihn noch immer, auch mit 54 Jahren. Denn die Reise nach München bedeutete für ihn damals den Start in sein neues Leben.

Der Architekt und Unternehmer Erdogan Altindis in seinem Atelier. (Foto: privat)

Mut hat sie ihm abverlangt, immer wieder. Da war der Abschied von der Mutter und den Geschwistern, da war der Fremde, der eines Tages vor der Tür stand, ihn mit nach Ankara nahm und dort zwei Tage in einem Elendsquartier allein ließ - "ich weiß noch, dass der Raum furchtbar dunkel und feucht und voller Moskitos war". Dann endlich ging es weiter, mit dem Flugzeug nach München.

Der Vater lebte in einer Barackensiedlung im Münchner Osten. Vier bis fünf Männer teilten sich eine Hütte mit Stockbetten und Metallspinden an der Wand. Sie bauten die Neue-Heimat-Siedlung am Jagdfeld in Haar, und mitten drin war nun der kleine Erdogan. "Ich hatte da eine tolle Zeit", erzählt Altindis, die Männer hätten ihn mit Schokolade und Bananen und Fernsehen verwöhnt. "Daktari" und "Lassie" verkürzten ihm die Tage, auch wenn er kein Wort Deutsch verstand.

Dann kam der Junge in die Pettenkoferklinik und wurde zweimal erfolgreich operiert. "Türkische Putzfrauen haben mich da über meine Einsamkeit hinweggetröstet", erzählt er. "Wenn ich heute mal ganz nostalgisch drauf bin, dann fahre ich an der Klinik vorbei und schaue rauf zu dem Fenster, hinter dem ich damals lag."

Nach sechs Wochen wurde er entlassen, mit einer Gipsschale, in der er nachts liegen musste. Wegen der Nachuntersuchungen konnte er nicht gleich in die Türkei zurück. "So genoss ich meine Freiheit im Barackenlager, bis eines Tages eine Frau vom Jugendamt auftauchte und sagte: Nix gut, du hier sein" - ein Kind allein zwischen lauter Männern. Sie brachte ihn in die Landesschule für Körperbehinderte nach Harlaching. "Das war mein Glück", sagt der Architekt. Er blieb in Deutschland, und er begriff sehr bald, welche Chance das für ihn bedeutete.

"Ich habe mich immer angestrengt", stellt Altindis mit einem Lächeln fest, als ob das alles ganz selbstverständlich sei. Als Junge hat er damals so schnell Deutsch gelernt, dass er bald in die Regelschule wechselte. Wenn die Sehnsucht ihn übermannte, ging er zum einzigen Telefon im Wohnheim und wählte sich die Finger an der Wählscheibe wund, "in der Hoffnung, endlich die Stimme meiner Mutter zu hören". Dann kamen die ersten Sommerferien in der Türkei, und von da an gehörten das Ankommen und Abschiednehmen zu seinem Leben. Sehnsucht, sagt er jetzt, das könne ein wichtiger Antrieb im Leben sein, "aber heute kennen das die Leute ja kaum noch, mit den Smartphones, die dich überall auf der Welt mit zuhause verbinden".

Zu seiner Sehnsucht kam eine unbändige Neugier aufs Leben. Und mit seiner offenen, herzlichen Art traf er immer wieder auf Menschen, die ihn unterstützten. Sein Zimmergenosse Beppi, zum Beispiel, schwer körperbehindert. "Der sagte eines Tages: Ich frag' meine Eltern, dann kommst du an Weihnachten mit zu uns." Es war ein wunderbares Familienfest im tief verschneiten Bayerischen Wald, erzählt Altindis. Bis heute halten sie Kontakt, und Weihnachten, das ist für ihn seither ein wichtiges Stück Deutschland. Vor einigen Jahren hat er mit der Unterbiberger Hofmusik eine CD mit Weihnachtsliedern aufgenommen, "auf Türkisch, meine Freunde waren begeistert".

Liegt viele Jahre zurück: Das Bild zeigt Altindis' Vater bei der Ankunft in München. (Foto: privat)

Auch eine Erzieherin nahm ihn öfter am Wochenende mit nach Hause, nach Dingolfing. "So bin ich ziemlich bayerisch geprägt worden", sagt Altindis und grinst. Er genoss das Leben, auch wenn er mit seinen Beinen längst nicht alles tun konnte, was gesunde Jugendliche unternahmen: Fahrrad fahren, zum Beispiel. Er wechselte zur Münchner Pfennigparade und ging dort auf die Fachoberschule. Kunst wollte er studieren, "aber das fand mein Vater keine gute Idee, also schrieb ich mich in Architektur ein". Und wieder einmal sollte es die goldrichtige Entscheidung sein.

Nach dem Studium arbeitete er in verschiedenen Büros und ging für eine Weile nach Istanbul. Er verliebte sich in die Stadt, fand sie berauschend, lebendig - aber dauerhaft in der Türkei leben, das konnte er sich nicht mehr vorstellen. Dennoch kaufte er sich eine kleine, heruntergekommene Wohnung im Künstlerviertel Galata. "Als Belohnung für die ganzen Anstrengungen, die ich in meinem Leben bis dahin unternommen hatte", sagt er. Er hat sie renoviert, sie ist bis heute sein zweites Zuhause. Von seiner Terrasse blickt er aufs Meer, sieht die Schiffe den Bosporus kreuzen, diese Brücke zwischen Orient und Okzident, und "ich höre die Kirchenglocken und die Rufe des Muezzin nebeneinander, das ist doch toll, dass es so etwas gibt".

Umtriebig: Altindis als Student auf Reisen. (Foto: privat)

Das Dazwischen-Sein wurde zu seinem Lebensprinzip. Freunde kamen zu Besuch, Freunde von Freunden, die Nachfragen nach der liebevoll gestalteten Wohnung wurden immer mehr. Er kaufte eine zweite Wohnung und renovierte sie, mit lokalen Handwerkern und Künstlern, die Nachfragen stiegen, am Ende hatte er Dutzende Wohnungen, gekauft oder gemietet, jede ein Unikat. So entstand Manzara, eine Firma und zugleich ein interkulturelles Projekt.

Heute ist Erdogan Altindis ein Wandler zwischen München und Istanbul, fühlt sich an beiden Orten gleichermaßen zu Hause. Das satte Grün der Kastanien im Biergarten, der Sommerwind an der Isar hier, das goldene Abendlicht über dem Bosporus, der Duft des türkischen Kaffees auf seiner Dachterrasse dort - "das ist ein riesiger Schatz, oder? Wer hat schon so etwas?", sagt er und lehnt sich zurück.

Alle paar Wochen pendelt er zwischen den beiden Städten. In der Pasinger Fabrik hat er vor drei Jahren eine deutsch-türkische Dialogreihe organisiert. Gerade hat er dem Münchner Stadtmuseum für dessen Forschungsprojekt zur Migration einen selbst gestalteten Weihnachtsbaum geschenkt, sie haben ein Video aufgenommen mit seiner Geschichte. Wer könnte besser erzählen als er, was Migration bedeutet und welchen Gewinn sie bringen kann für alle Beteiligten?

Hier sind Vater und Sohn 1973 glücklich vereint in der Münchner Gastarbeiterbaracke. (Foto: privat)

Seine Geschichte ist allerdings noch nicht zu Ende erzählt. Eines Tages erhielt Altindis eine Mail von Gabi aus München, auch sie Architektin: Sie finde seine Wohnung so schön und würde ihn gerne kennenlernen. "Da habe ich sie zur Eröffnung unseres Cafés in Istanbul eingeladen", erzählt Altindis mit einem Lächeln. Gabi blieb und wurde seine Frau.

Die beiden verstehen sich als Brückenbauer. Sie bieten Stadtführungen an, veranstalten Konzerte, Lesungen, Ausstellungen in Istanbul, sitzen mit ihren Gästen oft bis weit in die Nacht an einer reich gedeckten Tafel und diskutieren. "Dabei entstehen immer neue Ideen", erzählt Altindis und freut sich sichtlich, er ist ja selbst einer, der ständig vor Ideen sprüht. Künstler, Kabarettisten und Kuratoren kommen, ein Professor brachte seine Architekturstudenten, seither schreiben sie einmal im Jahr ein Architekturstipendium aus. Manzara verbindet die Besucher mit der Stadt, ihren Bewohnern, ihren Handwerkern, Köchen, Designern und Modemachern.

Eine große Altbauwohnung in Istanbuls Prachtmeile Isliki verwandelte Altindis in eine Galerie. Zur Einweihungsparty erschien der Schriftsteller Orhan Pamuk, "es kamen Weißkragen-Türken, aber genauso Studenten, Handwerker, Guerilla-Künstler und Transvestiten", erzählt der Unternehmer, "so etwas liebe ich: wenn ich Grenzen überwinden kann". In einem der Zimmer hat er die Baracke nachgebaut, in der er einst mit seinem Vater im Münchner Osten gewohnt hat. Er kann jetzt alles verbinden: die Kunst, die Architektur, seine Fähigkeit, Menschen zu begeistern. "Durch die Kunst habe ich gelernt: Du musst alle Ängste loslassen, um etwas zu erreichen", sagt er.

Dann kamen die Gezi-Park-Proteste, die ersten Verhaftungen. Die Spielräume sind enger geworden, seit der Staatspräsident mit Nachnamen Erdogan die Zügel angezogen hat. "Aber es gibt sie noch", sagt Altindis. Und er ist fest entschlossen, sie zu nutzen. Er geht ihm auch darum, ein vielfältigeres Bild der Türkei zu zeigen, als das, welches die Medien derzeit beherrscht.

Gerade hat er eine neue Ausstellung präsentiert. Eine Ausstellung über Drachen. "Meine Mutter sagte immer, ich sollte mich den ernsthaften Dingen des Lebens widmen. Und ich war ja auch immer sehr diszipliniert", sagt er. Aber einmal, an einem Frühlingstag in München, da spürte er den warmen, trockenen Wind auf seinem Gesicht, wie damals als Kind in Kayseri. "Da habe ich einen Drachen gebaut und ging in den Englischen Garten."

Er ließ den Drachen steigen, ein bisschen verschämt, hinter Büschen versteckt, sagt er, "und diesen Windzug an der Schnur zu spüren, machte mich glücklich." Dann kam ein Mann auf ihn zu und fragte: "Bist du Türke? Wir haben als Kinder auch solche Drachen in unserem Dorf gebaut, darf ich mal halten?"

Von diesem Augenblick an, sagt Altindis, habe er immer, wenn sich Gelegenheit bot, Drachen gebaut, auf der Insel Giglio, an der Ostsee, im Bayerischen Wald, über den Dächern von Istanbul. Und dabei gespürt, "dass das ein wunderbares Mittel ist, Menschen zusammenzubringen".

Jetzt hängen Drachen in seiner Galerie, jeder bekommt einen Paten - Menschen, die in den Häusern ringsum leben und arbeiten. Der Drache ist ein Symbol der Freiheit, sagt Altindis. "Ich will die Leute berühren, wie kann das besser gelingen, als durch Kindheitsträume? Die Türkei braucht das. Und der Dialog darf nicht abreißen."

© SZ vom 30.05.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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