Vor 66 Jahren:Als falsche Pilger nach Limone

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Ludwig Stemmer ist 1950 an den Gardasee geradelt - in eine andere Welt

Interview von Eva Casper

Fahrräder, ein Schulatlas und viel Erbswurstsuppe - damit machen sich Ludwig Stemmer und zwei seiner Freunde 1950 auf den Weg von München nach Italien. Nach vier Tagen landen sie am Gardasee.

SZ: Die Welt zu entdecken, noch dazu mit 16 , war damals nicht selbstverständlich. Gab es da nicht jede Menge bürokratischer Hürden?

Ludwig Stemmer: Wer ins Ausland wollte, brauchte eine Einladung. Wir haben gesagt, wir sind Pilgerreisende, da brauchten wir nur eine Bestätigung vom Pfarrer. Und natürlich einen Reisepass. Das war für mich das Hauptproblem, weil ich dafür von der Polizei ein Führungszeugnis benötigte. Bei der war ich bekannt wegen kleinerer Delikte. Schwarzfischen und so. Der Oberkommissar meinte schließlich: Wenn der verreist, sind wir ihn los. Also bekam ich das Zeugnis.

Wie fanden Ihre Eltern Ihre Pläne?

Katastrophe! Die Idee meines Vaters war: Lass ihn spinnen. Das wird sowieso nichts. Wir haben damals bei einer Dame an der Lachnerstraße gewohnt. Für sie war ich das Proletenkind. Ich war halt zelten und nicht musizieren und malen wie manch andere in meinem Alter. Sie hat auch immer unsere Post geöffnet. Als dann mein Reisepass per Post kam - Sie können sich nicht vorstellen, was da los war. DER kriegt einen Reisepass?

Ludwig Stemmer lebt heute in Schwabing. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Sind Sie vorher schon viel herumgereist?

Wir waren damals eigentlich auf unser Viertel fixiert. Sonst sind wir nur zum Zelten gefahren, an den Ammersee, den Starnberger See. Durch diese Visa-Prozedur sind wir in München das erste Mal über die Stadtgrenze von Neuhausen hinausgekommen. Das Zentrum damals hat uns überhaupt nicht interessiert.

Wie haben die Italiener auf Sie reagiert?

Wenn wir irgendwo draußen auf dem Land unser Zelt aufgeschlagen haben, dann waren wir die Sensation. "Tedeschi arrivi!", haben sie gerufen. Und in der Wirtschaft, wo wir dann waren, war es innerhalb kürzester Zeit bumsvoll mit den Einheimischen und dann ist es hoch hergegangen.

Konnten Sie Italienisch?

Null. Wir hatten ein Wörterbuch dabei und es gab viel Gelächter, wenn wir versucht haben, einen Satz zu bilden. So richtig kam das erst im Nachhinein, weil wir uns verliebten und Briefe schrieben.

Damals waren auf dem See sicher noch nicht so viele Segler unterwegs wie heute?

Überhaupt nicht. Das einzige, was du gesehen hast, war der Dampfer, der von Ort zu Ort gefahren ist, und die Fischer. Aber Sport? Null! Damals hat doch niemand die Freizeit dafür gehabt. Die Leute hatten noch offene Feuerstellen in ihren Häusern und mussten jeden Tag hart arbeiten. Da gab es auch keine Cafés oder Hotels. Touristisch war das null erschlossen.

Die Erinnerungen an den Gardasee der 1950er-Jahre hebt Stenner in seinem Fotoalbum auf. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Wie lange waren sie am Gardasee?

Fünf Tage ungefähr. Erst in Limone - ein schnuckeliges, kleines Fischerdörfchen, das man heute gar nicht mehr wiedererkennt. Dann sind wir noch nach Salò gefahren. Dort mussten wir unsere Kleider waschen. Am See haben auch die einheimischen Frauen gewaschen. Als sie uns gesehen haben, haben sie krakeelt und uns unsere Sachen weggenommen. Waschen ist nur Sache der Frauen, haben sie gesagt. Wir mussten sie später wieder abholen. Als wir dann nur mit der Badehose bekleidet ins Dorf gekommen sind, haben die alten Frauen geschrien und uns mit Steinen beworfen. Wir haben uns in eine Bäckerei retten können, wo wir dann neue Sachen bekamen.

Ansonsten haben sie keine Blessuren davongetragen?

Geschwitzt haben wir damals wahnsinnig. Wir sind im August gefahren, es hatte bestimmt mehr als 40 Grad. Uns sind allen die Lippen aufgesprungen. Wir konnten nichts mehr essen - außer Pfirsiche. Sechs Kilo haben wir gekauft für 100 Lire, das waren so etwa 15 Pfennige. Vier, fünf Tage haben wir nur Pfirsiche gegessen.

Und wie finden Sie den Gardasee heute?

Da ich kein Segelsportler und auch nicht mehr gut zu Fuß bin, hat der See für mich heute keinen Reiz mehr. Und was aus Limone geworden ist? Ich bin entsetzt! Nur noch Tourismus, Tourismus, Tourismus. Auf der anderen Seite muss man es verstehen. Die Leute müssen ja von etwas leben.

© SZ vom 13.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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