Transplantations-Experte:Herzenssache

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Zirkuspferde im Krankenhaus: Heinrich Netz wollte immer Kinderarzt werden. Er hat als erster in Europa ein Babyherz verpflanzt. (Foto: Stephan Rumpf)

Heinrich Netz rettete Tausenden kleinen Patienten das Leben. Jetzt geht der langjährige Leiter der Kinder-Kardiologie im Klinikum Großhadern in Pension

Von Stephan Handel

Das Klinikum Großhadern ist ein Labyrinth, wenn auch ein sehr rechtwinkliges. Der Besucher orientiert sich an den sogenannten Würfeln, die mit Buchstaben bezeichnet sind - was aber auch für den erfahrenen Großhadern-Besucher nicht bedeutet, dass er alles sofort finden würde. Wo denn der Professor anzutreffen sei, fragt er deshalb die vorbeilaufende Pflegekraft - die weiß ihm aber auch nicht zu helfen: "Mei, Professoren hamma hier zum Bodenpflastern", sagt sie.

Das mag so sein an einem Universitätsklinikum. Aber der, dem der Besuch gilt, ist dann doch leicht zu finden - und das liegt unter anderem an der grünen Tür. Das Großhadernsche Labyrinth ist nämlich nicht nur rechteckig, sondern auch ziemlich einfarbig. Da fällt eine grüne Tür natürlich auf, zumal, wenn sich dahinter eine ausgesprochen bunte Welt eröffnet. Heinrich Netz sagt: "Das war vielleicht ein Kampf, bis wir das so machen durften."

Netz geht vorbei an bunten Boden-Applikationen, Disney-Comics an der Wand und drei Karussell-Pferden wie von Mary Poppins aufgestellt. Er ist jetzt ein Stockwerk tiefer gezogen, denn sein Nachfolger hat die Arbeit aufgenommen - seit 1. Dezember ist Heinrich Netz offiziell im Ruhestand, nach 23 Jahren als Leiter der Kinder-Kardiologie in Großhadern. Das heißt aber noch lange nicht, dass er den weißen Kittel ausziehen und zu Hause die Beine hochlegen würde.

Kinderärzte sind ein eigenes Volk unter den Medizinern - mehr noch als erwachsene Patienten ist bei Kindern das Einfühlungsvermögen des Arztes gefragt, seine Fähigkeit, dem kranken Menschen die für die Diagnose wichtigen Informationen zu entlocken. Den Erwachsenen kann er einfach fragen, wo es ihm weh tut, und wenn eine Spritze notwendig ist, dann wird er meistens auch keine Zicken machen. Ein Kind aber, ein Säugling noch dazu, kann vielleicht noch gar nicht sagen, was ihm fehlt, und der Pieks ist einfach nur etwas, was Aua macht. Dennoch sagt Heinrich Netz: "Wenn man's weiß, sagen einem die Kinder schon, wo's langgeht." Und: "Ich wollte immer Kinderarzt werden."

"Immer" heißt in diesem Fall tatsächlich schon seit der frühesten Jugend. In der Oberpfalz ist Netz geboren, 1947, seine Tante war Nonne und betreute Frühgeborene am Krankenhaus in Landshut. Die Tante besuchte der junge Heinrich oft in den Ferien, sah, dass nicht viel mehr getan werden konnte als zu versuchen, die Frühchen irgendwie aufzupäppeln - und dass die Tante bei besonders schwierigen Fällen sagte: "Der muss nach München zum Professor." Da wurde wohl der Samen gelegt für Heinrich Netz' Karriere: Wenn er kranken Kindern helfen wollte, dann müsste er Professor in München werden.

Heinrich Netz transplantierte 1988 zum ersten Mal einem Neugeborenen ein Herz

Zum Studieren ging es aber dann erst nach Frankfurt, und weil das Mitte der Sechzigerjahre war, gibt er heute zu, dass er die Medizin-Vorlesungen öfter mal geschwänzt hat, um Adorno zu hören - "auch wenn ich nicht alles kapiert habe". 1975 begann das Berufsleben so richtig: am Klinikum in Gießen mit der Facharzt-Ausbildung. Bald aber überzeugten ihn die Kardiologen, dass er doch zu ihnen kommen sollte. Das lag vielleicht daran, dass er damals schon einen anderen Zugang zur Medizin pflegte als seine Vorgesetzten: "Die Ordinarien damals, die schauten sich einen Patienten an und dachten dann lange nach." Er hingegen fand Interesse an manuellen Dingen: Intubierung bei Babys, Beatmungsgeräte - "das war damals nicht üblich", zum Teil bastelten sie die Apparate selbst zusammen.

1988 fand in Gießen ein Ereignis statt, das in Deutschland einzigartig war und den Namen Heinrich Netz außerhalb Hessens und außerhalb medizinischer Fachkreise bekannt machte: Zum ersten Mal wurde einem Neugeborenen ein Herz transplantiert, und auf die Frage, warum das ausgerechnet in Gießen geschah, antwortet Netz mit chefarztwürdigem Selbstbewusstsein: "Weil ich da war." Die Operation war nicht unumstritten, "Experiment ohne medizinischen Nutzen" war einer der Vorwürfe, und dass das nie klappen würde. Das Ärzte-Team aber erwog: Das Baby - und alle anderen, die unter dem gleichen schweren Herzfehler litten - würde auf jeden Fall sterben, es gab keine andere Möglichkeit zur Behandlung. Also war die Transplantation kein Risiko, sondern der einzige Weg. Der Erfolg war durchschlagend und gab ihnen recht: Das Spender-Herz, so klein wie eine Pflaume, wurde vom Körper des Patienten angenommen und wuchs mit ihm mit, wie erhofft. Das todgeweihte Baby von damals ist heute ein junger Mann von 27 Jahren, Bayern-Fan, und wenn er in München ist, steht ein Besuch bei Heinrich Netz fest auf dem Plan.

Intensiv-Medizin bei Kindern auf höchstem universitären Niveau

Dass der Kinderarzt nach München ging, 1992, war zunächst gedacht als logischer Schritt in der Karriereplanung: "Ein paar Jahre woanders arbeiten und dann als Chef wiederkommen", so war es mehr oder weniger ausgemacht mit den Leuten in Gießen. Was aber dann geschah in Großhadern, war geeignet, ihn hier zu halten bis zur Pensionierung - zwei Jahre zuvor war der Herzchirurg Bruno Reichart aus Südafrika zurückgeehrt an die LMU und machte sich daran, die Kinderherzchirurgie auf- und auszubauen. Dazu braucht es, mehr noch als bei Erwachsenen, qualifizierte Kardiologen. Denn Herzschäden bei Kindern und bei Babys sind meistens nicht erworben, weil sie nicht rauchen, zu viel essen und sich zu wenig bewegen - in den meisten Fällen ist das schwache Herz angeboren. Intensiv-Medizin bei Kindern auf höchstem universitären Niveau: "Das fand ich wahnsinnig faszinierend", sagt Netz.

Nicht, dass er sich ins gemachte Nest hätte setzen können, im Gegenteil: Die Abteilung war ganz neu, kaum etwas war vorhanden, vor allem keine Räume. Hilfe kam von vier Damen, die 1993 einen Verein gründeten, die "Elterninitiative Kinderklinik Großhadern": Ursula von Bayern, Ingrid Wrede-Lanz, Frau des Architekten Peter Lanz, Elke Reichart, verheiratet mit dem Chefarzt, und die Journalistin Ulrike Reisch begannen zu trommeln für kranke Kinder. Und neben vielen Millionen Euro, die sie an Spenden auftrieben, war sicher auch die charmante Hartnäckigkeit hilfreich, mit der sie zu Werke gingen - so dass am Ende sogar der Architekt resignierte und einwilligte in die Ergrünung der Eingangstür zur Kinderambulanz.

So wurde die Abteilung die wahrscheinlich fröhlichste und bunteste in ganz Großhadern - auch wenn die Patienten hier mit zu den Schwersterkrankten überhaupt gehören. Aber das findet Heinrich Netz gerade interessant: den Eltern, außer sich vor Sorge um ihr Kind, zu erklären, was los ist, die Möglichkeiten aufzeigen, Vertrauen aufbauen. "Da ist der Arzt dann der Anker und der Pol der Zuversicht", sagt Netz. Und immer wieder die Frage, wenn er zu einem schwierigen Eingriff raten muss: Würden Sie das auch raten, wenn es Ihr eigenes Kind wäre? "Diese Frage", sagt Netz, "stellen wir uns aber sowieso jedes Mal."

200 Eingriffe zählt die Abteilung im Jahr, womit sie im bundesweiten Vergleich nicht zu den größten gehört. "Aber wir sind das Paradebeispiel dafür, dass Größe nicht unbedingt Qualität bedeutet", sagt Netz. "Unsere Ergebnisse sind überdurchschnittlich." Dass das so bleibt, dafür sorgt nun der Nachfolger, Niklaus Haas, der aus Bad Oeynhausen gekommen ist und in dieser Woche das Chefbüro bezogen hat.

Für Netz bleibt, wenn er den weißen Kittel ausgezogen hat, mehr Zeit für seine größte Leidenschaft: "Ich bin Wagnerianer, seit ich denken kann", sagt er. Daneben aber behält er noch ein kleines Büro in seiner Abteilung und leitet eine Forschungsgruppe, die untersucht, ob und wie Fettleibigkeit bei werdenden Müttern das Risiko des Babys auf eine Herz-Erkrankung erhöhen. Heinrich Netz wird also auch weiterhin in Großhadern zu finden sein: Würfel FG, hinter der grünen Tür.

© SZ vom 03.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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