Theater:Sehnsucht nach der Revolte

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Sebastian Nübling inszeniert an den Münchner Kammerspielen Tennessee Williams' "Camino Real", ein Stück, das im Amerika der 1950er Jahre heftige Irritationen hervorgerufen hat

Von Petra Hallmayer

Die Menschen waren einfach noch nicht so weit", schrieb Tennessee Williams in seinen "Memoiren" rückblickend. Das Stück, das das zeitgenössische amerikanische Theater so weitgehend von den Fesseln des Realismus befreite, wurde in Grund und Boden verrissen. Nie zuvor hatte ein Text des amerikanischen Erfolgsdramatikers solches Befremden, so viel Irritation und Häme ausgelöst. In dessen düsteren Fantasien, konstatierte selbst ein freundlicher Kritiker nach der Uraufführung von "Camino Real" 1953, stecke "eine psychopathische Bitternis". Die Anfeindungen waren so heftig, dass eine Gruppe von Schriftstellern, darunter John Steinbeck, das Stück und seinen Autor in einer Anzeige in der New York Times verteidigte.

Zwei Jahre, sagte Tennessee Williams, habe er "mit dem Fieber eines improvisierenden Jazzmusikers" an dem Stationendrama gearbeitet, das in eine fiktive lateinamerikanische Hafenstadt entführt, einen trostlosen Ort, der in einem Nirgendwo zwischen Meer und Wüste liegt. Dort begegnen wir Don Quijote und einem Wiedergänger von Prousts Baron de Charlus, wird Jacques Casanova von der Kameliendame Marguerite sitzen gelassen, die sich einen jugendlichen Liebhaber kauft, und gibt sich Lord Byron der Erinnerung an die Verbrennung von Shelley hin. Der Titel "Camino Real" lässt sich sowohl als "Königsweg" als auch als "Straße der Wirklichkeit" übersetzen. Auf dieser stranden Williams Gespenster aus der Vergangenheit, die die Erinnerung an Geschichten aus fernen Zeiten in eine desillusionierte und brutalisierte Gesellschaft tragen, aus der es kein Entrinnen gibt. Alle Fluchtversuche münden in den Tod.

"Es ist ein aufregend modernes, fast postdramatisches Stück", meint Sebastian Nübling. Die literarischen Verweise der Figurennamen sollen in seiner Inszenierung, die am Samstagabend in den Kammerspielen Premiere feiert, allerdings kein besonderes Gewicht haben. Der 54-jährige Regisseur, der den Text verschlankt und die über 40 Figuren reduziert hat, möchte sich ganz auf die gesellschaftskritische Essenz des allegorischen Albtraumspiels konzentrieren. Eingebettet in die poetisch und symbolisch aufgeladenen surrealen Szenen hat Williams eine finstere Abrechnung mit dem Amerika der 1950er Jahre. Nübling will den Bilderreigen aus seiner zeitlichen und lokalen Anbindung herauslösen und uns mitten hineinführen ins Hier und Heute. "Wenn man die Schnörkel, die lateinamerikanischen Exotismen und Romantizismen, beiseite schiebt", glaubt er, zeige sich das nüchtern schonungslose Porträt einer radikal ökonomisierten Gesellschaft, in der zwischen Fiestas die Angst und die Verzweiflung umgehen und die Menschen gemeinsam einsam sind. "Jede Beziehung ist eine Form von Deal. Die noch etwas haben, versuchen es zu verkaufen und die nichts mehr haben, tragen die eigene Haut zu Markte."

In diese Vergnügungen gegen Barzahlung offerierende Vorhölle stolpert der ehemalige Boxer Kilroy, eine Art Parzival-Figur, ein reiner Tor mit einem Herzen aus purem Gold, das so groß ist wie ein Kinderkopf, und noch einem "Funken Anarchie in seinem Geist". Den gilt es natürlich auszumerzen. Widerstand, erklärt Casanova, sei zwecklos: "Hier wird nichts Wildes oder Wahres geduldet." Der Außenseiter Kilroy, der Frau und Beruf verloren hat, so Nübling, "ist ein Stehaufmännchen, das allen mit einem offenen, positiven Blick entgegentritt, eine dieser Welt fremde Energie mit sich bringt." Um sie zu zähmen, wird Kilroy für den Job eines Clowns zwangsengagiert. "Wer anders ist, wird vereinnahmt, und wer sich nicht mehr benutzen lässt, wird ausgeschieden. Es ist ein vampiristisches System, das jede Wärme aus den Menschen saugt, ihnen nur zwei Optionen erlaubt: zu zerbrechen oder zu verhärten." Mit erstaunlicher Hellsichtigkeit, so Nübling, habe Williams in "Camino Real" "die Gesellschaftsstrukturen beschrieben, in denen wir heute leben."

Die klare soziale Zweiteilung der Stadt, in der sich gegenüber einem luxuriösen Hotel, dessen Manager als zynischer Kommentator fungiert, ein Elendsviertel erstreckt, hat Nübling aufgehoben. "Bei uns befinden sich alle auf der Rutschbahn abwärts. Einige strampeln noch etwas weiter oben, andere sind bereits nach unten gerutscht, niemand aber kann sich mehr sicher fühlen." Der Zustand vermeintlicher Sicherheit ist nur eine Vorstufe, ein Zwischenstadium auf dem Weg nach unten.

Als Kilroy ist Risto Kübar zu sehen, der schon Nüblings Tennessee-Williams-Inszenierung "Orpheus steigt herab", die 2013 zum Berliner Theatertreffen eingeladen wurde, einen flirrenden dunklen Zauber verlieh. Für die Rolle des Mannes mit der Schlangenhaut Val Xaviers, der in einem rassistischen Südstaatenkaff landet, wurde der Este damals zum Nachwuchsschauspieler des Jahres gewählt. Was Risto Kübar für Nübling vor allem auszeichnet, sind seine außergewöhnliche Bühnenpräsenz und sein intensives, klug akzentuiertes physisches Spiel. "Er ist ein Grenzgänger, der auch ein Tänzer oder Sänger sein könnte und es versteht, seinen Körper wie ein Instrument einzusetzen."

Damit kommt er Sebastian Nüblings Inszenierungsstil entgegen. Als ein "Körpertheaterspezialist", ein Choreograf der Emotionen wurde dieser von der Kritik wiederholt bezeichnet, zu dessen Ensemble in "Camino Real" auch die Tänzerin Alice Gartenschläger gehört. "Wir haben uns daran gewöhnt", erklärt er, "unsere Körper beständig zu beherrschen. Die Art, wie wir sie im alltäglichen Leben einsetzen und zumal zum Verstummen bringen, unterliegt strengen Normen." Im Theater aber kann der Körper wieder zu einer eigenen Sprache finden. Dabei versucht Nübling ein kontrastierendes Wechselspiel zwischen zwei Ebenen: "Indem die Körper nicht dasselbe ausdrücken wie die Worte, werden die Brüche, Widersprüche und Ambivalenzen in den Figuren deutlich."

Statt durch eine Stadtkulisse torkeln seine Figuren auf der Bühne zwischen riesigen Plüschtieren umher, "die als eine Art Götzen unserer Wegwerfkultur, in der Gefühle als Sentimentalitäten verramscht werden, über dieser bösen Geisterwelt thronen." Für deren Funktionieren sorgen bei Tennessee Williams autoritäre Ordnungsmächte. Jeder Anflug von Solidarität wird erstickt, das Wort "Hermano", Bruder, ist verboten. Mittlerweile, glaubt Nübling, sei die Horrorvision eines Polizeistaates, die der Amerikaner entwarf, obsolet. In einer Gesellschaft, in der alle freiwillig an ihrer Selbstoptimierung für den Markt arbeiten, "braucht es gar keinen fiesen Chef, keinen autoritären Druck mehr, um die Menschen zu disziplinieren." Spürbar werden aber soll in den Kammerspielen aber auch der Rest an widerständigen Sehnsüchten, der durch die Herzen spukt.

Camino Real von Tennessee Williams, Regie: Sebastian Nübling, Premiere am Samstag, 28. März, Schauspielhaus der Kammerspiele

© SZ vom 28.03.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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