Tagelöhner in München:"Schau, die ersten kapitulieren schon"

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Jeden Morgen warten Tagelöhner bei der Jobbörse in München auf einen Arbeitsplatz für die nächsten Stunden - die meisten warten umsonst.

Philipp Schneider

Das Warten ist verlorene Lebenszeit. Das spürt hier jeder. Vielleicht gibt es deshalb keine richtige Uhr. Nur diese handtellergroße vorne am Eingang, in deren Richtung sowieso niemand schaut und die der Wachmann mit seinem Kopf verdeckt, wenn er gelangweilt hin und her wippt. Doch niemand vermisst eine Uhr an diesem Donnerstagmorgen gegen Acht.

Stundenlang sitzen die meisten Tagelöhner jeden Vormittag im Warteraum der Jobbörse und hoffen auf einen kurzfristigen Auftrag. (Foto: Foto: Alessandra Schellnegger)

32 Menschen haben sich eingefunden, dämmern auf roten Sitzen und lesen Zeitung. Die Menschen sind Männer, die Zeitungen Boulevardblätter. Niemand spricht, alles blättert. Wenn nicht hin und wieder eine Thermoskanne zischen und Kaffee in einen Becher plätschern würde, die Stille wäre erdrückend. Einige der Männer kennen sich, sind Stammgäste, hatten sich schon vor Jahren nichts zu sagen.

Andere sind neu. Wie der Mann in der vierten Reihe mit der blauen Jeansjacke, der sich Pierre nennt. Vor sechs Jahren hat er sein letztes Bankkonto aufgelöst, jetzt sitzt er da und liest als einziger im Wartesaal ein Buch.

Seine Finger gleiten über vergilbte Seiten, der Schriftzug auf dem Einband ist kaum noch zu entziffern: "Zehn Tage, die die Welt erschütterten." Eine Abhandlung über die russische Oktoberrevolution, mit einem Vorwort von Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin. "Kann nicht so offen reden, bin ja der Polizei kein Unbekannter", flüstert Pierre. "Ich werde auch vom Verfassungsschutz beobachtet." Pierre lächelt. Irgendwie scheint es ihn zu freuen.

Die Geschichte mit Pierre und dem Verfassungsschutz ist aber so eine Sache. Man weiß nicht, ob sie stimmt. Hier im Wartesaal von Münchens einziger Vermittlungsbörse für Tagesjobs lässt sich die Wahrheit nur schwer von den Legenden trennen. Man kann froh sein, wenn überhaupt gesprochen wird, wenn Menschen wie Pierre ihre Lebensgeschichten erzählen und die anonyme Masse für ein paar Minuten zumindest einen Vornamen erhält.

Seit sechs Uhr sind die meisten hier. Männer auf der Suche nach einer Beschäftigung für einen Tag. Tagelöhner für schwere körperliche Arbeiten und acht Euro die Stunde. "Tagelöhner ist antiquiert, ich bevorzuge das Wort Subproletariat", sagt Pierre. Er bevorzugt allerdings noch ganz andere Worte, man schreibt besser akribisch mit, wenn man mit ihm spricht: "Hartz IV fördert doch nur die Sklavenmentalität, die ohnehin schon in den Köpfen aller Arbeiter verankert ist." Er selbst sei ein "bewusster, revolutionärer Arbeiter mit Klassenbewusstsein".

"Besser isses"

Pierre lebt ohne Festanstellung und staatliche Bezüge. Damit gehört er zu jener Minderheit im Wartesaal, von der sich Brigitte Buchfellner, Vermittlerin an der Jobbörse, nicht erklären kann, wie sie überhaupt überleben können. Pierre kann es erklären. Das hängt auch damit zusammen, dass er überhaupt eine Menge kann: Er kann Boden verlegen und er kann malern. Er kann lackieren, schreinern, schweißen und schwere Kisten tragen. Alles, was hier so vermittelt werde, sagt er. Noch wichtiger sei allerdings, dass er sich von allen Statussymbolen getrennt und auch nie Kinder in die Welt gesetzt habe. "Besser isses", sagt Pierre.

Acht Uhr zweiundfünfzig. Drei Jobs sind seit sechs Uhr früh vermittelt worden. Zweimal hat Brigitte Buchfellner Angebote ausgerufen, durch das Schalterfenster, eines dieser kleinen ovalen, zu denen man sich immer etwas unwürdig hinunterbeugen muss: "Suche einen Umzugshelfer in Pasing" und "Suche zwei Bauhelfer mit Sicherheitsschuhen". Fast alle Männer hatten sich gemeldet, auch die ohne Sicherheitsschuhe. Jeder wollte den Zuschlag, Zufall oder Willkür entschieden, aus 35 wurden 32.

Pierre will plötzlich rauchen, er schlendert vor die Tür. Wenn jetzt ein Job ausgerufen würde, hätte er keine Chance, rechtzeitig den Arm zu heben. Es ist ihm egal. Er schnorrt sich eine Zigarette, dann beginnt er zu erzählen. Das ist der Deal. 45 sei er, sagt der Mann mit dem vollen, braunen Haar und dem dezenten Antifa-Anstecker. Handwerker, gelernter Zimmermann. Zwischen den Sätzen inhaliert Pierre, als sei es die letzte Zigarette seines Lebens. "War ewig auf der Walz: Griechenland, Holland, Dänemark, Frankreich, bin überall zurechtgekommen, spreche sogar Holländisch. In den Pyrenäen war ich ein halbes Jahr lang der Assistent von einem Parkranger, hab' Brücken repariert und Tiere gezählt, das war die beste Zeit meines Lebens."

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Irgendwann kam Pierre zurück nach Deutschland, arbeitete jahrelang in einem festen Anstellungsverhältnis - bis das mit dem Rücken losging. "Unangenehme Sache, der Rücken", sagt Pierre. "Du spürst plötzlich deine Hände nicht mehr richtig, und auch die Füße kribbeln." Der Arzt bescheinigt ihm Mitte der Neunziger die Arbeitsunfähigkeit. Den Beruf, den er gelernt hat, kann er nicht mehr ausüben. "Nichts Ungewöhnliches, hier hat jeder eine ähnliche Lebensgeschichte."

Dann hält er kurz inne, während sich ein paar Männer an ihm vorbeischieben. Von Kaffeetrinken und der Aussichtslosigkeit des Wartens ist die Rede, ehe man sich auf der Straße verliert. Neun Uhr vierunddreißig, die ersten Wartenden geben auf. "Schau, schau, die ersten kapitulieren", sagt Pierre.

"Ab jetzt wird es immer unwahrscheinlicher, und wenn man doch noch einen Job abbekommt, dann lohnt es sich nicht mehr richtig, weil meistens um 18 Uhr Schicht ist. Die Uhr tickt." Pierre will sich gerade noch eine Zigarette anzünden, als Hilmar W. erscheint, eine weitere Geschichte aus der anonymen Schar. Das weiße Hemd frisch gebügelt und die grauen Haare akkurat in Richtung Hinterkopf gekämmt, wirkt Hilmar W. wie ein Mann, der nicht sonderlich große Schwierigkeiten bei Vorstellungsgesprächen haben dürfte.

"Netzwerk, verstehste?"

Er raucht nicht, aber er hat das Gespräch belauscht, und jetzt hat Hilmar W. etwas Wichtiges zu sagen. Die ganze Sache mit Pierres Verzicht auf staatliche Unterstützung, die sei nämlich totaler Wahnsinn, sei auch "nicht repräsentativ".

"Junge, warum nimmst du dir nicht, was dir zusteht? Hier wollen doch alle in ein normales Leben zurück, in der Zwischenzeit muss man doch nicht unwürdig leben", sagt der 50-Jährige zu dem 45-Jährigen, der Realist zu dem Idealisten. Hartz IV will zu viel Einfluss auf mein Leben, antwortet Pierre. Das mag es nicht. "Früher war alles easy, da musste ich auch nicht hierher kommen. Ich kenne so viele Leute, Anarchisten, Rätekommunisten, als es noch lief, haben wir uns massenweise Jobs zugeschustert. Netzwerk, verstehste?"

Hilmar W. hat eine andere Lebensgeschichte und nicht viel übrig für Netzwerke wie dieses. Er stammt aus Bitterfeld, Sachsen-Anhalt, und manchmal, wenn er Büddörfeld sagt, dann hört man das auch. Ehemalige DDR also, oder neue Bundesländer, aber niemals Ostdeutschland, das Wort steht auf seinem persönlichen Index. "Klingt wie Kalter Krieg, die Wiedervereinigung ist fast 20 Jahre her, langsam muss gut sein mit Ost und West." Seit mehr als zwei Jahren kommt Hilmar W. nun zur Jobbörse, fast jeden Tag, pünktlich um sechs Uhr. Er ballt die Hände in den Hosentaschen und erzählt, wie schlecht es seit Anfang Januar läuft.

"Ungelogen", sagt Hilmar W, "nicht einen einzigen Job habe ich in der Zeit vermittelt bekommen." Dass er heute überhaupt hier ist, hat nichts mit seinem Rücken zu tun wie bei Pierre, eher schon mit dem Knie und erst Recht mit einer Frau. "Hab' mich halt verliebt, hab' gekündigt, bin zu ihr gezogen", erzählt er. "Ging dann schnell in die Hose, die Nummer. Kann ja mal passieren."

Seit zwei Jahren ist der Kraftfahrer Hilmar W. auf der Suche nach einer neuen Anstellung. Er sucht in der FAZ, er sucht in der SZ. Er sucht im Internet, in München und in Flensburg. "Ganz egal, ich ziehe überall hin, mache jeden Job, will nur raus aus der kleinen Mietswohnung und zurück in ein richtiges Leben. Aber wird nicht einfacher, wenn man Fuffzich ist." Elf Uhr zweiunddreißig. Die Zeit vergeht und mit ihr die Chancen.

Die zwölf Männer, die jetzt noch im Wartesaal sitzen, glauben nicht mehr an einen Job, aber sie fangen an zu reden. Aus Konkurrenten werden Leidensgenossen. Einer der Männer erzählt von dem besten Auftrag, der hier jemals vermittelt worden sei: eine Woche Viehtransport nach Istanbul. Sieben Tage lang die Füße aufs Armaturenbrett und hin und wieder den Kühen Wasser geben.

Etwas bizarr klingt die Geschichte an einem Ort, an dem als spezialisiert gilt, wer Sicherheitsschuhe trägt. Es sind die letzten Gespräche an diesem Tag. Die Jacken werden angezogen, vereinzelt Hände geschüttelt. "Bis morgen", sagen manche, aber nicht viele. Irgendwann gehen auch Pierre und Hilmar. Der Fernfahrer aus den neuen Bundesländern, der keinesfalls aus Ostdeutschland kommt, hatte mit demführerscheinlosen, klassenbewussten Arbeiter noch kurz über die Nulltoleranz-Alkoholpolitik in der ehemaligen DDR gestritten. Man kam da nicht zusammen.

Es ist zwei Minuten nach Zwölf. Einsam wippt der Wachmann vor der Uhr.

© SZ vom 15.04.2009/sonn - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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