SZenario:"Ihr müsst es weitertragen!"

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Befreier und Befreite berichten über ihre unfassbaren Erlebnisse im KZ Dachau vor 70 Jahren

Von Philipp Crone, München

Joshua Kaufman und Ben Lesser sitzen nicht einfach so nebeneinander. Kaufman, 87, Jude aus Ungarn, ist am 29. April 1945 von amerikanischen Soldaten aus dem KZ Dachau befreit worden, genauso wie Lesser, 86, aus Krakau. Sie werden gleich als Zeitzeugen im Film Unfassbares aus ihrer Zeit im KZ erzählen und anschließend auf dem Podium weiter vom KZ-Horror berichten. Doch zunächst müssen sie viele Bilder von damals noch einmal ansehen, 52 Minuten lang, in der ergreifenden Dokumentation "Die Befreier" (31. Mai, 22 Uhr, History Channel). Bilder, die sie ohnehin niemals vergessen können. Aber darum geht es ja gerade: diese Geschehnisse nicht zu vergessen, sagen sie. Kaufman und Lesser sitzen Schulter an Schulter, aneinander angelehnt, und ertragen scheinbar stoisch die Bilder, um danach umso engagierter für ihre Mission zu kämpfen. Das Bewahren, das Erinnern.

Zwei Befreite: Ben Lesser und Joshua Kaufman (r.) (Foto: Catherina Hess)

Lesser und Kaufmann haben am Montagvormittag im Saal des Amerikahauses in der ersten Reihe Platz genommen, neben Donald Greenbaum und Herman Cohn, zwei ehemaligen US-Soldaten, von denen sie damals befreit wurden, und neben dem ehemaligen Häftling Ernest Gross, 85. Die ersten Bilder des Dokumentarfilms laufen auf der Leinwand, man sieht Kaufman, wie er bei den Dreharbeiten den Ex-Soldaten Daniel Gillespie, 86, kennenlernt und vor ihm auf die Knie sinkt, um seine Füße zu küssen. "Das wollte ich schon damals machen, doch ich war zu schwach", sagt Kaufman im Film.

Der Pay-Sender History hat einen beeindruckenden Film gedreht und dafür Protagonisten gefunden, die all das erlebt haben, was am Mittwoch 70 Jahre her sein wird. Kaufman etwa spricht im Film, die Mütze wie auch an diesem Montag leicht schief auf dem Kopf, wie er immer morgens als erster aus der Baracke lief. "Dann stellten sie an den Zäunen den Starkstrom ab", was bedeutete, dass er, damals 17, bei denjenigen, die sich in der Nacht umgebracht hatten, weil sie die Entbehrungen nicht mehr aushielten, nach Essen an ihren steifen Körpern suchen konnte. "Oft fand ich etwas, meist voller Urin und Fäkalien." Das war egal, denn es war essbar und hielt ihn am Leben. So überlebte Joshua Kaufman als einer von 32 000 Häftlingen, die von Soldaten wie Greenbaum befreit wurden. Wenn die alten Männer über ihre Erlebnisse berichten, wie sie es an Schulen regelmäßig in den USA tun, und Ernest Gross Tränen über das Gesicht rinnen, bekommt man eine Ahnung davon, wie groß das Leid vor 70 Jahren gewesen sein muss, wenn es noch heute so schmerzt. Kaufman erzählt: "Meine Mutter und meine Schwestern mussten bei der Ankunft nach links, ich nach rechts." Er überlebte, sie nicht. Und Lesser sagt: "Meine Schwester, mein kleiner Bruder - Asche." Und Rauch, der aus dem Schornstein des Krematoriums stieg. Da legt Kaufman ihm die Hand auf die Schulter. Die Überlebenden werden weiter erzählen, solange sie können.

Der Befreier Donald Greenbaum beugt sich am Ende nach vorne, schaut in den Saal und sagt: "Aber in zehn Jahren sind wir nicht mehr da. Ihr müsst es weitertragen!"

© SZ vom 28.04.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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