SZ-Serie: Stadt der Zukunft, letzte Folge:Vision erfüllt?

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So hat sich Karl Valentin ums Jahr 1930 herum München mit Wolkenkratzern vorgestellt. Als Bewahrer und Sammler des alten München reagierte er auf die rasante Bautätigkeit in der ganzen Stadt geradezu mit Wut und Verzweiflung. Er beklagte sich, dass es in München "schon zu neuyorkeln" beginne. (Foto: Montage: Karl Valentin/Vorlage: Valentin-Karlstadt-Musäum/(c) Valentin-Erben c/o Rechtsanwalt Fette)

Ein Raketenbahnhof in Riem, keine Heizungen mehr und immer wieder Wolkenkratzer - das alles wurde München in der Vergangenheit prophezeit. Eingetreten ist davon nur wenig. Die Probleme, die die Stadt seit dem Krieg bewegt haben, sind aber erstaunlich aktuell geblieben

Von Frank Müller

Zeitungsserien über die Zukunft haben einen gravierenden Nach- und einen unschätzbaren Vorteil. Der Nachteil: Niemand kann auf die Schnelle überprüfen, was aus den aufgestellten Prognosen wird. Der Vorteil: Niemand kann auf die Schnelle überprüfen, was aus den aufgestellten Prognosen wird. Soll heißen: Mancher Gedanke bleibt vielleicht rein hypothetisch - aber als Gedankenexperiment ist alles erlaubt. Zehn Folgen lang hat sich die Süddeutsche Zeitung mit Visionen für unser Großstadtleben beschäftigt und mit Menschen, die schon jetzt weit vorausdenken. Ob all das dann auch so kommt oder nicht, dazu gibt es als klare Aussage nur ein entschiedenes: Wer weiß?

Umso interessanter ist, was eigentlich von früheren Münchner Prognosen und Plänen übrig geblieben ist, mit denen sich die SZ und andere Kristallkugelforscher in den vergangenen Jahrzehnten beschäftigt haben. Zum Beispiel die Kinder aus dem Luisengymnasium, der Mariahilfschule, der damaligen St.-Anna-Oberrealschule und der Weilerschule. München wurde gerade 800 Jahre alt, als der Nachwuchs im Jahr 1958 aus diesem Anlass Aufsätze darüber schrieb, wie er sich München im Jahr 2000 vorstellt. Es sind Dokumente rührenden Fortschrittglaubens, die die jungen Halbstarken und Backfische verfassten, die damals nicht so oft Maxi und Marie hießen, sondern zum Beispiel Manfred: "Die Straßenbeleuchtung wird ganz modern sein und mit Atom brennen", schrieb der Zwölfjährige. "In der Schule schreiben Atomstifte, selber kann man dabei Bücher lesen oder Milch trinken", erträumte sich Salomea, elf. Wilfried, 14, ahnte den Flughafenumzug voraus, überschätzte aber den Mut der Stadt München: "Aus dem Riemer Flughafen ist ein Raketenstartgelände geworden. Es ist nichts Außergewöhnliches mehr, wenn eine Rakete den Mond besucht und wieder zur Erde zurückkommt."

So gab es viele Visionen, die die SZ damals zum 800. Stadtgeburtstag zusammenfasste: Ein Marienplatz, "von dem aus schöne breite, betonierte Straßen nach allen Himmelsrichtungen führen" (Elisabeth, 18). Aber auch brandaktuell klingende Nahverkehrs-Euphorie: "Im dritten Stock unter dem Hauptbahnhof liegt eine hell erleuchtete Halle, die man mit dem Personenaufzug erreicht. Dieser Raum bildet den Ausgangspunkt der Bahnstrecke, die den Hauptbahnhof unter der Stadt hindurch mit dem Ostbahnhof verbindet", (Inge, 18). Nicht schlecht für 1958.

Doch als Münchner Zukunftsthema wohl am meisten diskutiert sind und bleiben die Hochhäuser. Es gab viele Visionen von Wolkenkratzern im großen Stil, ob mitten in der Altstadt oder als Pendant zu ihr am Stadtrand als zweite Münchner Silhouette. Im Jahr 2001 druckte die SZ auch eine eigene Serie über mögliche Hochhauspläne. "Auch Maßstabsprengendes gehört zu München", sagte die damalige Stadtbaurätin Christiane Thalgott. Doch danach passierte nicht sehr viel, was die übliche Münchner Traufhöhe gesprengt hätte.

Die Münchner Diskussion ist so alt wie das Bauprinzip des Wolkenkratzers selbst. Schon in den Aufsätzen der Kinder von 1958 ist eine Mischung aus Faszination und Besorgnis zu spüren. "Der Dom fühlt sich als Wahrzeichen Münchens gekränkt", schreibt die zwölfjährige Irene 1958 angesichts überall denkbarer viel höherer Häuser. Doch wie die Geschichte ausging, ist bekannt: Im Jahr 2010 legten die Münchner in einem Bürgerentscheid fest, dass der 99 Meter hohe Dom keine Kränkung fürchten muss - kein Haus darf in München seitdem höher gebaut werden als 100 Meter, beschlossen die Bürger.

Andererseits: So wie es in einem utopistisch orientierten SZ-Artikel von 1982 der Architektur-Professor Otto Meitinger prophezeite, kam es dann auch wieder nicht. Das Hypohochhaus am Effnerplatz werde möglicherweise der letzte neue Mammutverwaltungsbau in München sein, orakelte Meitinger, weil die Computertechnik immer mehr Arbeitnehmern ein Home-Office ermögliche (was damals natürlich noch nicht so hieß). Wie überhaupt insgesamt weniger gebaut werde, weil der Bedarf bei Schulen, Krankenhäusern und anderen Bauten weitgehend gedeckt sei. Heute, mehr als drei Jahrzehnte später, diskutiert die Stadt über riesige Neubaugebiete und über die bedrückenden Defizite bei Schulen. Und das 1977 fertiggestellte Klinikum Großhadern reißt sie gleich ganz ab - um Platz für einen Neubau zu schaffen.

Eine möglichst nüchterne Prognose ist das eine, die Bewertung derselben etwas ganz anderes. Als die SZ in dieser Woche in der aktuellen Zukunftsserie über die Auswirkungen des Klimawandels auf München schrieb, wurde ein vielleicht nicht so unrealistisches "Horrorszenario" skizziert: In München könne es wegen der zu erwartenden Aufheizung soweit kommen, dass "die Klimapolizei eine Ausgangssperre verhängt". 45 Jahre zuvor hatte die SZ der Landeshauptstadt ebenfalls deutlich steigende Temperaturen prophezeit, allerdings las sich die Beschreibung der Folgen im Jahr 1971 weniger dramatisch: "München wird wärmer - Heizen kann überflüssig werden." Wenig später begann die Ölkrise.

Überhaupt sind erstaunlich viele Fragen, die München und die Welt heute umtreiben, nicht so anders als die damaligen. Zuwanderung war ebenfalls 1971 schon großes Thema. "Bis 1985 jeder vierte Münchner ein Ausländer", titelte die SZ im Dezember 1971. Damals war nicht von Migranten und Flüchtlingen die Rede, sondern von Gastarbeitern und manch bekanntem Problem: Die Wohnungspolitik müsse reagieren, Gastarbeiter, so plane es die Stadt, sollten nicht erst nach zehn, sondern schon nach fünf Jahren in eine Sozialwohnung ziehen dürfen. Das Erlernen der deutschen Sprache sei für Ausländer essenziell, zitierte die SZ den Planungsexperten von Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel, Hubert Abreß: "So lange sich ihr Wortschatz auf ,nix gutt' und ,kaputt' beschränkt, wird die Eingliederung der Gastarbeiter auch weiterhin auf unlösbare Schwierigkeiten stoßen." Das würde das Rathaus heute womöglich sensibler formulieren.

© SZ vom 24.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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