SZ-Serie "Große Tiere":Seiltänzer mit Glubschaugen

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1996 entdeckte der Zoologe Frank Glaw bei einer Expedition auf Madagaskar das winzige Chamäleon - auf der Insel lebt die Hälfte aller bekannten Arten

Von Hans Holzhaider

Chamäleons sind wahrhaft bemerkenswerte Tiere. Mit ihren zangenartigen Zehen können sie auf dünnen Ästen entlangbalancieren wie Seiltänzer. Ihre Glubschaugen ragen seitlich über den Kopf hinaus und decken ein Gesichtsfeld von etwa 340 Grad ab, ein fast kompletter Rundumblick also. Sie können ihre Zunge um mehr als die eigene Körperlänge aus dem Maul schleudern, und im letzten Augenblick mit einem Muskel an der Zungenspitze eine Vertiefung bilden, die das Beutetier packt und festhält. Und sie können ihre Farbe verändern.

Früher dachte man, sie täten das, um sich besser vor ihren Fressfeinden zu tarnen; inzwischen nimmt man an, dass sie das Farbspiel hauptsächlich zur Kommunikation mit ihren Artgenossen verwenden. Auf Stress reagieren viele Chamäleonarten mit einer Dunkelfärbung, sie ärgern sich buchstäblich schwarz. Aber sie können mit Farbänderungen auch ihre Paarungsbereitschaft oder ihren Gesundheitszustand signalisieren. Kurz gesagt: Kein Hollywoodausstatter könnte sich für einen Science-Fiction-Film einen seltsameren Alien ausdenken als ein Chamäleon.

Frank Glaw zeigt das nach ihm benannte Mini-Chamäleon. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Es gibt nicht viele Zoologen, die mehr über Chamäleons wissen als Frank Glaw. Er ist 49 Jahre alt; seit 1997 ist er Leiter der Sektion Herpetologie (Amphibien und Reptilien) an der Zoologischen Staatssammlung München. Gerade ist Frank Glaw wieder in Madagaskar unterwegs, zum wievielten Mal, das weiß er schon fast nicht mehr. Auf Madagaskar, muss man wissen, lebt fast die Hälfte der rund 200 bisher bekannten Chamäleonarten.

1987, da war Frank Glaw 21 Jahre alt, fuhr er zum ersten Mal auf die Insel, die sich schon vor 150 Millionen Jahren vom afrikanischen Kontinent und vor 90 Millionen Jahren vom indischen Subkontinent getrennt hat. "Aus biologischer Sicht ist Madagaskar ein eigener Mikrokontinent", sagt Glaw. Alle 300 Froscharten und 95 Prozent der mehr als 400 Reptilienarten, die auf Madagaskar vorkommen, sind endemisch, das heißt, es gibt sie nur hier und sonst nirgends auf der Welt.

Der Osten Madagaskars war ursprünglich fast ganz von tropischem Regenwald bedeckt. Heute sind, bedingt durch die intensive Brandrodung, davon nur noch klägliche Reste übrig geblieben. Es sei schwierig, sagt Frank Glaw, den Einheimischen den Schutz der Wälder nahe zu bringen. "Viele fürchten sich im Wald", sagt er. "Dort, glauben sie, leben die Seelen ihrer verstorbenen Ahnen. Und weil die Bevölkerung so stark wächst, brauchen die Menschen auch immer mehr Land, um sich zu ernähren."

Ein etwa zehn bis zwanzig Kilometer breiter Streifen Regenwald zieht sich im gebirgigen Ostteil der Insel von Norden nach Süden. Dort, zwischen der Provinzhauptstadt Fianarantsoa und dem Küstenstädtchen Manakara, liegt der Nationalpark Ranomafana, das bedeutet "Heißes Wasser". Die Gegend ist bekannt für ihre heißen Quellen. Dort hatte Frank Glaw bei einer Expedition 1996 sein Arbeitslager aufgeschlagen. Die Nacht ist die beste Zeit, um Tiere zu entdecken. Tagsüber, sagt Glaw, seien die Chamäleons nahezu perfekt getarnt. "Nachts schlafen sie auf den Astenden. Dort spüren sie die Erschütterung, wenn eine Schlange sich nähert, und können sich auf die Erde fallen lassen." Aber im Licht der Taschenlampe kann man sie so auch leicht sehen.

Und so entdeckte Frank Glaw das Chamäleon, das nach ihm benannt wurde: Ein kleines Tier mit nur etwa sechs Zentimeter Körperlänge (der Schwanz ist noch einmal genauso lang); grün mit vielen türkisen Flecken und einem gelben Halsband. Auffallend war die schwärzliche Nackenkappe, ein häutiger Lappen, den das Chamäleon aufrichten kann, um Artgenossen, insbesondere Weibchen, zu beeindrucken. Auch das Fehlen des gezackten Rückenkammes unterscheidet es von ähnlichen Arten.

Glaw brachte ein Männchen und ein Weibchen mit nach Deutschland und zeigte sie seinem Doktorvater Wolfgang Böhme am Zoologischen Forschungsmuseum Alexander König in Bonn. Der bestätigte sofort: eine neue Art. Er beschrieb sie und benannte sie nach ihrem Entdecker: Calumma glawi.

© SZ vom 07.01.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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